Anschlag in Istanbul
Türkische Regierung nach Festnahmen in der Kritik
Die Ermittlungen zum Anschlag mit sechs Toten in Istanbul haben gerade erst begonnen, doch für die türkische Polizei scheint der Fall bereits klar. Sie machten umgehend kurdische Milizen für das Attentat verantwortlich. Experten sehen das Vorgehen der Regierung aber kritisch.
Die Polizei veröffentlichte relativ bald nach der Explosion Fotos einer Frau in Handschellen sowie mit Schlapfen und einem Pulli mit New-York-Aufschrift. Sie soll die Bombe auf der beliebten Einkaufsstraße Istiklal platziert haben. Wenig später habe die Syrerin gestanden, ihren „Befehl“ von der „PKK/YPG/PYD“ bekommen zu haben. Aus Sicht der Türkei sind die syrische Kurdenmiliz YPG und deren politischer Arm PYD Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und ebenfalls „Terrororganisationen“. Beide dementierten am Montag jegliche Verantwortung für den blutigen Anschlag, der auch über 80 Verletzte gefordert hatte.
Schnell verhängte Nachrichtensperre im Land
Dass die Lesart der türkischen Regierung lange die einzige Darstellung der Ereignisse ist, die Menschen in der Türkei zu lesen und zu hören bekommen, liegt zum Beispiel an einer schnell verhängten Nachrichtensperre für Medien im Land. Laut offizieller Darstellung wurde die Nachrichtensperre zu Verhinderung von Angst und Panik verhängt. Ausnahmen wurden nur für offizielle Mitteilungen gemacht.
Kurz nach dem Attentat luden zudem Social-Media-Seiten wie Instagram oder Twitter langsam oder nur mit Hilfe eines VPNs. „Die Bandbreitenbeschränkung wurde vom Präsidenten der Türkei angeordnet und vom Leiter der Telekommunikationsbehörde (BTK) durchgeführt“, so der Cyberrechtsaktivist Yaman Akdeniz. Der gesamte Prozess sei geheim und unterliege keiner richterlichen oder gerichtlichen Genehmigung.
Rufe nach neuer Militäroperation in Nordsyrien
„Es ist ein autoritäres Regime“, sagte Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci Universität in Istanbul, „es stützt sich auf ein Blackout der Medien, wenn man Gefahr läuft, scharfe Kritik zu kassieren.“
Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen seien, hätten türkische Beamte für eine neue Militäroperation in Nordsyrien plädiert, sagte Berkay Mandirici von der International Crisis Group. Ein Vorhaben, das Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Mitte des Jahres ankündigt. Ankara geht regelmäßig gegen alle drei Gruppierungen militärisch vor - in der Südosttürkei, dem Nordirak und in Nordsyrien.
USA würden „Terrororganisationen“ unterstützen
Mit der angeblichen Unterstützung für die YPG etwa hatte Ankara auch das Veto für die NATO-Norderweiterung um Schweden und Finnland begründet. Die USA wiederum sehen die YPG im syrischen Bürgerkrieg als Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Innenminister Süleyman Soylu warf Washington vor diesem Hintergrund vor, „Terrororganisationen“ zu unterstützen. Er lehne daher Beileidsbekundungen aus der Botschaft und dem Konsulat ab.
Mandirici sagte, es bleibe abzuwarten, ob die türkischen Ermittlungen weitere Beweise für die Behauptung einer Schuld der PKK/YPG aufdecken. Die Terrormiliz Islamischer Staat oder das Terrornetzwerk Al-Kaida und Sympathisanten dieser Gruppen sollten noch nicht als potenzielle Täter ausgeschlossen werden. In der Türkei gebe es Schätzungen zufolge Tausende von mit dem IS-verbundenen Personen, sowohl türkische Staatsbürger als auch Ausländer, die aus Syrien und dem Irak eingereist sind. „Der Istiklal-Angriff spiegelt in Bezug auf Verhalten und Ziel frühere Angriffe des IS mit Blick auf Methode und Ziel in der Türkei in den Jahren 2015/2016 wider“, do Mandirici.
Politologe: Attentat zeigt Sicherheitslücke
Das Attentat zeige in jedem Fall eine deutliche Sicherheitslücke, so der Politikwissenschaftler Esen. Laut Polizei ist die Hauptverdächtige illegal aus dem Norden Syriens in die Türkei und Hunderte Kilometer in die Metropole am Bosporus gereist. Sie habe auf einer stark überwachten Straße eine Bombe deponieren und zünden können. Das werfe ein schlechtes Licht auf die Regierung und besonders das Innenministerium, so Esen.
Menschen in der Türkei fühlten sich mit dem Attentat auch erinnert an die Ereignisse in den Jahren 2015/2016, als eine Reihe von Anschlägen mit vielen Toten das Land erschütterte. Mit Blick auf die Umfragen konnte die regierende AKP unter Erdogan die Situation damals für sich nutzen. Eine kurz zuvor verlorene Mehrheit konnte sie damals wieder erringen. Auch das nährt derzeit Spekulationen in der Türkei. Denen will sich Esen nicht anschließen. Die Situation könne sich auch ins Gegenteil verkehren, etwa wenn die Opposition eben die Versäumnisse der Regierung für sich nutzen könne. In der Türkei soll im kommenden Juni gewählt werden.
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