Schneider-Serie

„Ich werde immer mehr mein Vater“

Vorarlberg
19.06.2022 11:45

In seiner Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitet Robert Schneider Vorarlberger an die Lieblingsplätze ihrer Kindheit. In Kennelbach traf er den bekannten Anwalt Claus Brändle.

Am Kustersberg in Kennelbach, unterhalb der Langener Straße, liegt sein Elternhaus. An klaren Tagen, wenn die Familie auf der engen Hausterrasse frühstückte, ging der Blick übers gesamte Rheintal bis hinein in den Rätikon. Lehnte man sich etwas über den Balkon hinaus, breitete sich der gesamte Bodensee vor einem aus, dahinter das oberschwäbische Hügelland. „Wer bei uns zu Besuch war, sagte immer: Wieso schaut ihr nicht? Ach, sagten wir, das sehen wir jeden Tag“, berichtet Claus Brändle, mein heutiger Gast, nüchtern. Der 56-Jährige ist Wirtschaftsanwalt und von Natur aus pragmatisch gestrickt. Kein Poet. Mehr Analytiker und Strukturalist. Aber im Lauf der Begegnung kommt auch die schwärmerische Seite ans Licht, besonders, als er mich zum Lieblingsplatz seiner Kindheit führt. Der liegt nämlich direkt unterhalb von Balkonien. Ich trete an die Brüstung und folge Brändles Fingerzeig. Er deutet auf eine Eibe, die immer schon da stand - der Baum seiner Kindheit. „Die ist, seit ich auf der Welt bin, vielleicht einen Meter größer geworden. Schätze ich mal.“

Mir fällt erst jetzt auf, wie steil das Gelände ist. Das Haus ist über einem handtuchgroßen Grundriss erbaut, so kommt es mir jedenfalls vor. „Der Opa war kripfig, hat meinem Vater nur diesen Boden überlassen. Also hat der Papa jedes Jahr ein Mäuerchen aufgezogen, um wenigstens eine ebene Fläche für zwei, drei Gartenstühle zu gewinnen. Ich habe ihm dabei geholfen. Einmal, als es tagelang schüttete, konnten wir vom Fenster aus zusehen, wie die neue Mauer immer mehr ausbuchtete und schließlich einstürzte. Dann mussten wir jeden einzelnen Betonstein wieder den Berg hochtragen.“

Robert Schneider:Was hat es mit der Eibe auf sich?
Claus Brändle: Die Liegenschaft gehörte eigentlich einem Mann, der nach Amerika ausgewandert war, weshalb das Grundstück nie gepflegt wurde. Reinste Wildnis. Lianen hingen herab. Überall undurchdringliches Gebüsch. Da haben wir uns mit den Sackmessern einen Weg gebahnt. Die Summer-Buben aus der Nachbarschaft, die Mixen-Buben und ich. Hier haben wir Hochstände gebaut und von dort aus die Welt regiert. Tee aus Blättern gebraut und geschaut, ob uns der Sud bekommt. Ein wirkliches Spieleparadies. Ach, wir haben Sachen gemacht, die heute aus sicherheitsrelevanten Aspekten nirgendwo mehr durchgehen würden.

Claus Brändle streift mit leuchtenden Augen durch sein steiles Kinderparadies. Eine Erinnerung nach der andern kommt wieder hoch: Dass es z. B. in seinem Leben buchstäblich nur bergauf gegangen sei. Dass er entweder Pfarrer werden wollte oder Mathematiker. Dass die Landschaft unter seinen Augen damals noch aus Kuhweiden und Apfelbäumen bestand und das Rheintal allmählich zur Megalopolis wird, mit dem Lauteracher Ried als Vorarlberger Central Park. Wir kehren zum Gespräch ins elterliche Haus zurück, wo uns seine Mutter Kaffee serviert. Sie hantiert im Hintergrund, hört aber aufmerksam zu. Ich spüre, wie stolz sie auf ihren Claus ist und bitte sie, sich zu uns an den Tisch zu setzen.

Schneider: Wer war Ihnen näher? Die Mama oder der Papa?
Brändle: Ich war ein Mama-Kind. Der Vater, der vor drei Jahren gestorben ist, war Versicherungsvertreter. Viel unterwegs. Aber die Wochenenden waren ihm heilig. Samstags hat er am Haus gearbeitet. Wieder ein Mäuerchen hochgezogen. Was habe ich als Kind stundenlang krumme Nägel gerade geklopft! Aber je älter ich werde, desto mehr werde ich wie mein Vater. Ja, und am Sonntag ging man in die Kirche. Ich habe acht Jahre lang ministriert und Lesung gelesen. Mir hat das getaugt.

Schneider: Sie sind aber nicht Priester geworden, sondern Jurist.
Brändle: Mir war schnell klar, dass ich in die Wirtschaft gehen will. Auch das Richteramt hätte mich interessiert. Aber schon als Rechtspraktikant stieß mich die Art der Verwaltungsmühle ab. Wenn der Bleistift nicht unter vier Zentimeter abgespitzt war, bekam man keinen neuen. Also konzentrierte ich mich auf Schadenersatz und Gewährleistung, weil das ein unglaublich weites und spannendes Feld ist. Da ist man nicht nur als Jurist gefordert, sondern man muss sich in unterschiedlichste Materien einlesen, vom medizinischen Gutachten bis zu einem Bausachverständigen-Gutachten. Ich war nie einer, der tagein, tagaus das Gleiche machen wollte.

Schneider: Wie hat sich Ihr Beruf im Lauf der Jahre gewandelt?
Brändle: Etwas lässt sich gut beobachten: Es haben immer mehr die Anderen Schuld an der eigenen Misere. Selten stellt sich noch jemand hin und sagt: Jawohl, das hab ich selbst verbockt. Dafür stehe ich gerade. Wenn sich eine Sache nicht zugunsten des Mandanten entscheidet, ist natürlich der Anwalt schuld, auch wenn er schon im Vorfeld darauf hingewiesen hat. Da kommt es dann gern zu Erinnerungslücken. Mein Problem ist oft, dass ich viel zu intensiv die Fälle mit- und durchlebe.

Schneider: Das schönste Erlebnis in Ihrer Karriere?
Brändle: Als Anwalt vor dem Europäischen Gerichtshof auftreten zu dürfen. Das ist etwa 15 Jahre her. Es ging um eine Insolvenzgeschichte in Deutschland. Der Gerichtssaal war so groß, dass mein Haus dreimal hineingepasst hätte. Die Eltern sind auch mit nach Luxemburg gefahren. Der Papa hat voller Stolz fotografiert. Gleich rannte die Aufsicht herbei und wollte ihm die Kamera wegnehmen. Da stehst du also als kleiner Anwalt aus Vorarlberg und bekommst am Ende Recht. Das war ein Hammer.

Schneider: Wann sind Sie ganz sich selbst?
Brändle: Wir haben für unsere Kinder zwischen zwei Bäumen ein Plattform-Spielhaus gebaut. Wenn ich dort mit einem Glas Wein sitze und in die Abendsonne schaue, bin ich glücklich.

Schneider: Eigentlich wie damals als Bub unter der uralten Eibe?
Brändle: Genau so.

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.

Vorarlberg Wetter
4° / 18°
heiter
7° / 21°
heiter
5° / 21°
heiter
6° / 21°
heiter



Kostenlose Spiele