Nach Freilassung
Freigesprochene Amerikanerin bangt um ihr Leben
Der Anfang Juli von einem Geschworenengericht gefällte Freispruch hatte in den USA landesweit für Empörung gesorgt. Wie es mit der jungen Frau, die im Gefängnis Morddrohungen erhielt und nach dem Freispruch mit Zivilklagen eingedeckt wird, weitergeht, ist unklar.
"Nur wenn du da drin bleibst, bist du sicher!"
Mit 537,86 Dollar in bar von ihrem Gefängniskonto in der Tasche wurde Anthony um kurz nach vier Uhr morgens in der Nacht auf Sonntag auf freien Fuß gesetzt. Durch die Vordertür des Orange County Jails in Orlando begleiteten sie zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizeibeamte. Das Sheriff's Departement hatte die Gegend um das Gefängnis großflächig unter Bewachung gestellt, Straßenkontrollen aufgebaut und sogar einen Scharfschützen in Bereitschaft gehalten, falls jemand eine der vielen Selbstjustiz-Drohungen in die Tat umsetzen wollen hätte.
Rund 100 Bürger durften sich vor das Gefängnis stellen und - mit Sicherheitsabstand - gegen die Freilassung der 26-Jährigen demonstrieren. Sie brüllten "Hier spaziert eine Babymörderin!" und "Nur wenn du da drin bleibst, bist du sicher!" und hielten Fotos von Caylee Anthony in die Höhe. Das damals zweijährige Mädchen starb 2008 unter nach wie vor ungeklärten Umständen, wobei seine Mutter bzw. Casey Anthonys Eltern das Verschwinden des Mädchens rund einen Monat lang nicht gemeldet hatten.
Welle der Empörung nach Freispruch
Die Staatsanwaltschaft warf Casey Anthony beim zweimonatigen Prozess vor, ihre Tochter ermordet und in einem Wald vergraben zu haben. Anthonys Anwälte behaupteten, Caylee sei im Swimmingpool ertrunken und ihr Großvater habe den Unfall in einer Kurzschlussreaktion vertuschen wollen und die Leiche verscharrt.
Die Geschworenen konnte keine der beiden Versionen überzeugen, im Zweifel sprachen sie Casey Anthony vom Vorwurf des Mordes frei. Eine vierjährige Haftstrafe für Falschaussagen gegenüber ermittelnden Beamten (u.a. stellte die 26-Jährige das Verschwinden ihrer Tochter als möglichen Entführungsfall dar) wurde Anthony mit ihrer dreijährigern U-Haft und aufgrund guter Führung als verbüßt ("time served") nachgesehen.
Das Urteil entfachte einen regelrechten Volkszorn in den USA, wo der Prozess gegen die junge Frau über Wochen hinweg nicht nur ein Medienereignis war, sondern auch in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter zum Thema Nummer 1 wurde. Die Reaktionen auf das Urteil waren gerade in diesem Bereich von einer bisher noch nie dagewesenen Intensität.
Wirklich "frei" ist Casey Anthony seit Sonntag nicht. Laut ihrem Anwalt steht die junge Frau unter enormen psychischen Stress, braucht ärztliche Betreuung und aufgrund der Todesdrohungen auch Polizeischutz. Obwohl US-Fernsehsender den SUV, mit dem Anthony am Sonntagmorgen abgeholt wurde, sogar mit Hubschraubern verfolgen ließen, ist Anthonys Aufenthaltsort aber unbekannt geblieben. Der Wagen konnte den "Verfolgern" entkommen.
Debatte über Justizsystem und "Lex Caylee"
Ein neues Leben wird Anthony dennoch so bald nicht beginnen können, nicht einmal in einem anderen US-Bundesstaat. Ihr Gesicht war zwei Monate lang fast täglich im Fernsehen zu sehen, Folgedebatten ließen auch in den Tagen nach dem Freispruch keine Ruhe einkehren. Talkshows debattierten die Fairness im US-Justizsystem - und zwar dem Schuldsprüche fordernden Steuerzahler gegenüber -, aktuell beschäftigt Rechtsexperten der umstrittene Vorstoß republikanischer Politiker in mehreren Bundesstaaten, eine "Lex Caylee" zu beschließen. Demnach sollen sich Eltern, die ein Verschwinden oder den Tod ihres Kindes nicht binnen zwölf bzw. einer Stunde melden, einer schweren Straftat schuldig machen und für mindestens ein bis maximal fünf Jahre im Gefängnis landen.
Juristen erachten so ein Gesetz aber als unvollstreckbar. Anhand der Daten der letzten Jahre gebe es allein beim plötzlichen Kindstod Hunderte Eltern, die eingesperrt werden müssten, weil sie den Tod ihres Babys im Schock nicht sofort meldeten oder es schlichtweg nicht bemerkt hatten, z.B. weil sie schliefen.
Millionenklagen als "Gerechtigkeit für Caylee"
Einfach unterzutauchen wird für Casey Anthony auch deswegen nicht möglich sein, weil der 26-Jährigen in den nächsten Monaten noch zahlreiche Gerichtstermine bevorstehen. Ermittler und empörte Bürger bzw. Kinderrechtsaktivisten wollen sich an Anthony über Zivilklagen rächen. Wegen der Falschaussagen, für die Anthony ja verurteilt wurde, will die Polizei von ihrem Recht Gebrauch machen, einen Teil der Ermittlungskosten zurückzufordern, die Anthonys Lügen verursachte haben sollen. Von mehreren hunderttausend Dollar ist die Rede. Anthony war schon vor ihrer Inhaftierung pleite und wiederholt wegen Gelddelikten verhaftet worden.
Eine Frau, die wegen einer Falschaussage Anthonys kurze Zeit als Entführerin der kleinen Caylee verdächtigt worden war und deshalb nach eigenen Angaben wirtschaftlichen Schaden erlitt, hat eine Millionenklage auf Schadenersatz und Schmerzensgeld eingereicht. Gegenüber US-Medien rühmt sie sich damit, die "Baby-Killerin" Anthony auf diese Weise doch noch abstrafen zu können.
Kosten einklagen will auch eine Hilfsorganisation, die sich an der Suche nach Caylee beteiligt hatte und Tausende Dollar in Plakate und Suchtrupps investierte. Die Kinderrechts-Aktivisten argumentieren, dass, unabhängig von der Darstellung der Ereignisse durch Staatsanwaltschaft oder Verteidigung, Anthony in jedem Fall gewusst habe, wo ihre Tochter war bzw. dass das Mädchen tot war und jegliche Suchaktion nach einem Entführer vergebens war.
Kommt bald das "große Interview"?
Mit den angekündigten Klagen wurden zuletzt auch Gerüchte laut, Anthony könnte ihre Geschichte vermarkten. Ein US-Fernsehsender soll der Frau eine Million Dollar für ein Interview geboten haben. Ihre Anwälte bestätigten dies am Wochenende nicht, beharrten jedoch darauf, dass Anthony als "freie Bürgerin" gewisse Rechte habe und es an ihr läge, von diesen Gebrauch zu machen. "Das Recht, seine Meinung zu äußern, ist eines davon." Neben Interviews werden auch lukrative Buch-Deals und Verkauf von Filmrechten kolportiert.
Laut Anwalt Jose Baez müsse seine Mandantin zunächst aber "ihr Leben so gut es geht wieder in den Griff kriegen". Er sei in erster Linie besorgt um Anthonys Sicherheit und angesichts der Reaktionen auf den Freispruch um das Rechtsverständnis der Amerikaner. "Diese Frau ist vor Gericht gestanden. Der Prozess ist beendet. Es ist an der Zeit, dass wir Urteil von Geschworenen akzeptieren."
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