Bein abgetrennt

Betrunken von U-Bahn überrollt: Wer ist schuld?

Wien
03.03.2019 06:00

Es geschah am 2. Februar: Ein 18-Jähriger stürzte in einer Wiener U-Bahnstation in den Gleistrog, lag dort drei Minuten. Dann fuhr ein Zug ein - und dem Burschen wurden das rechte Bein und der linke Fuß abgetrennt. Wer trägt die Schuld an dem Drama?

Er wirkt gefasst, spricht mit ruhiger Stimme, lächelt manchmal sogar ein wenig. „Ich will nicht, dass ihr traurig seid“, sagt Nedim M. immer wieder zu seinen Eltern, die neben seinem Krankenbett sitzen und weinen. „Denn wichtig ist doch nur“, sagt er auch, „dass ich noch lebe“. Ob der 18-Jährige wirklich so tapfer ist, wie er scheint? Wie es ihm psychisch tatsächlich geht, weiß außer ihm niemand.

Siebenmal wurde er in den vergangenen Wochen operiert, weitere Eingriffe sind geplant, mindestens einen Monat wird er noch im Wiener AKH bleiben, danach in ein Rehabilitationszentrum überstellt. Wo er dann so vieles lernen muss. Zu gehen, mit seiner Behinderung zurechtzukommen. „Ich werde das alles schaffen.“

Eine Krankenschwester kommt in Nedims Zimmer, bringt ihm Medikamente gegen Schmerzen: „Es gibt Momente, an denen sie fast unerträglich sind, an Stellen, wo gar nichts mehr ist.“ Das Bein unterhalb des rechten Knies fehlt, und der linke Fuß, ab der Ferse. Die Körperteile, sie wurden dem 18-Jährigen abgetrennt, am 2. Februar, von einer U-Bahn.

„Ich glaube, dass der Unfall mein Schicksal war“
Laut Rekonstruktion der Polizei sei das Unglück die Folge einer Verkettung unglücklicher Umstände gewesen. „Ich glaube, dass der Unfall mein Schicksal war. Weil ja schon die Stunden davor so absurd verlaufen sind. Als würde ich auf eine Katastrophe zusteuern.“ Am Abend des 1. Februar hatte der junge Zivildiener Freunde zu sich nachhause eingeladen, die Eltern waren gerade zu Besuch bei seiner Schwester in Spanien, sie studiert dort Wirtschaft.

Nedim, nicht an Alkohol gewöhnt, trank Wodka, „ich fühlte mich benebelt, als wir gegen Mitternacht in eine Disco fuhren.“ Dort bestellte er Energydrinks, „um nüchtern zu werden“. Was ihm zunächst gelungen sei, „doch dann wurde mir plötzlich extrem schlecht, ich bekam kaum noch etwas von dem, was rund um mich passierte, mit.“ Seine Clique war besorgt, es gab die Vermutung, irgendjemand hätte dem 18-Jährigen K.-o.-Tropfen in sein Red Bull geschüttet.

Also gingen die Burschen an der frischen Luft spazieren. Bis Nedim meinte, es gehe ihm wieder gut und er könne ohne Begleitung nach Hause fahren. Und dann war er völlig alleine, in der U-Bahn-Station Altes Landgut in Wien-Favoriten. Auf Überwachungsvideos ist zu sehen, wie er – ab 6.49 Uhr – umherirrte, letztlich bis zum Gleistrog; um 6.53 Uhr stürzte er ab, er wurde bewusstlos. Drei Minuten später fuhr ein Zug ein. Passagiere hörten seine Schreie; erst, nachdem die Garnitur die Station verlassen hatte, fanden sie den Schwerverletzten.

„Dauerte Minuten, bis ich Wahrheit begriff“
Es war um die Mittagszeit, als Nedim im AKH nach einer Not-OP aus der Narkose erwachte: „Ich erinnerte mich dunkel an das Geschehene und glaubte zunächst, ich hätte einen Albtraum gehabt. Es dauerte Minuten, bis ich die Wahrheit begriff.“ Der Schock, Weinkrämpfe, Hoffnungslosigkeit.

„Wird mich die Gesellschaft akzeptieren, so, wie ich nun bin – oder werden sich manche Menschen wegen meiner Behinderung von mir abwenden? Das sind die Fragen, die mich quälten.“ Ärzte, Psychologen und eine Frau, die einst bei einem Unfall beide Beine verloren hat, „waren mir schließlich eine große Hilfe – indem sie mir klarmachten, dass ich auch jetzt noch ein schönes Leben haben kann. Wenn ich mich nicht aufgebe. Mittlerweile“, sagt Nedim und sieht seine Eltern an, „habe ich mich mit meiner Situation abgefunden.“ Nach der Reha will er ein Technikstudium beginnen, „vielleicht schaffe ich es sogar, irgendwann wieder Fußball zu spielen.“ Mit Prothesen. Doch davon gibt es bessere und weniger gute.

1,18 Promille im Blut
Wie hoch werden die finanziellen Zuschüsse sein? Die Mutter des Burschen ist Krankenpflegerin, der Vater Fassadenbauer: „Wir verfügen über geregelte Einkommen – aber nicht über große finanzielle Mittel.“ Wer trägt die Schuld an der Tragödie? Bloß ihr Sohn, der sich - mit 1,18 Promille Alkohol im Blut - unvorsichtig verhalten hat?

„Wie kann es sein“, so Manfred Arbacher-Stöger und Mathias Burger, die Rechtsbeistände der Familie, „dass – trotz Kameraüberwachung – kein Alarm ausgelöst wurde, als Nedim auf die Gleise fiel. Und dass die Fahrerin der U-Bahn nichts von dem Drama bemerkte?“ Eine Sprecherin der Wiener Linien: „Es gibt keine lückenlosen Videokontrollen. Zum Zeitpunkt des Unglücks befand sich der Stationswart auf einem Rundgang. Und die Zugführerin konnte den Burschen nicht sehen, weil er zum Großteil in der Rettungsschiene lag.“

Es wird Verhandlungen um Schmerzensgeld geben, und Erhebungen dazu, ob der Zivildiener in der Disco betäubt wurde – eine Anzeige gegen unbekannte Täter liegt bereits vor.

„Ich hätte sterben können“
Nedim spricht über andere Dinge: „Ich hätte am 2. Februar sterben können. Doch aus irgendeinem Grund sollte das nicht so ein. Vielleicht wurde ich von einem höheren Wesen beschützt – und ich werde es nicht enttäuschen.“

Martina Prewein, Kronen Zeitung

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