Rund 11.000 Fans verfolgten Mittwochabend in einer am zweiten Rang abgehängten, in dieser Version aber ausverkauften Wiener Stadthalle den Worten und Liedern des neuen Rock‘n‘Roll-Heilands Yungblud aka Dominic Harrison. Eine schweißtreibende und 100 Minuten voller Energie bestehende Angelegenheit, die seinem derzeitigen Hype mehr als gerecht wurde.
Bei manchen Künstlern kommt irgendwann einmal der Moment, wo sie durch etwas Glück und/oder eine richtige Entscheidung einen Karriereboost erhalten, von dem sie ihr restliches Leben zehren können. Der Autor dieser Zeilen war dabei, als dem jungen Briten Dominic Harrison aka Yungblud dies diesen Sommer widerfuhr. Am 5. Juli stellte er sich beim legendären „Back To Beginning“-Abschiedskonzert von Ozzy Osbourne im Birminghamer Villa Park nachmittags im adretten Anzug auf die Bühne, um den Black-Sabbath-Klassiker „Changes“ zu performen – und eroberte damit nicht nur die Herzen der Fans, sondern auch eine ganz neue Zuschauerschicht. Plötzlich waren nicht mehr nur Teenager mit kajalumschminkten Augen in der unsicheren Pubertät zugegen, auch die etablierte Rockerschicht der älteren Generation kann sich seither auf den 28-Jährigen einigen. Dass er mit Ozzy befreundet war, von ihm sogar als eine Art legitimierter Nachfolger gekrönt wurde, schadete dabei nicht.
Adretter Rockstar statt bunter Punk
Ebenso wenig, dass er seine brandneue Single „My Only Angel“ mit Aerosmith eingespielt hat und im gemeinsamen Video mit Steven Tyler so vertraut wirkt, als würde hier der junggebliebene Opa mit seinem ADHS-gesteuerten Enkel die Grenzen der Rockmusik neu definieren. Das wiederum macht Harrison schon seit seinem Debütalbum „21st Century Liability“ aus dem Jahr 2018, wo er mit seiner offensiven und selbstbewussten Art und geschicktem Punkrock-Songwriting wie ein Komet in die Erdhalbkugel einschlug. Nicht zuletzt das öffentliche Kuscheln mit den etablierten Rock-Legenden hat Yungbluds Image in den letzten Jahren aber deutlich verändert. Der Babyspeck der frühen Jahre ist einem Fitnesscenter-gestählten Rockstarkörper gewichen. Die bunten Socken und das Emo-Outfit wurden gegen die hautenge Lederhose eingetauscht und ungestüme Songs wie „Superdeadfriends“, die zuweilen sogar in die Hardcore-Punk-Schiene gerückt sind, würde Yungblud heute definitiv nicht mehr schreiben.
Bei seinem bislang größten Österreich-Auftritt in der randvollen Wiener Stadthalle erinnert jedenfalls nicht mehr allzu viel an die älteren Auftritte in der Arena oder am Nova Rock, geschweige denn an sein Österreich-Debüt, das er – noch völlig unbekannt – 2017 beim Showcasefestival Waves gab. Mit seinem aktuellen Studioalbum „Idols“ landete Yungblud zum dritten Mal in Serie auf Platz eins der englischen Albumcharts. Spätestens auf der Bühne weiß man, warum Harrison mittlerweile in der breiten Masse funktioniert. Der opulente, fast zehnminütige Opener „Hello Heaven, Hello“ ist eine Mischung aus KISS, Queen und exaltiertem AOR-Melodic-Rock, der sich extrem penetrant in die Gehörgänge schmiegt, dabei aber nicht lästig ist oder zum repetitiven Ohrwurm mutiert. Schon am frühen Abend regnet es kiloweise Konfetti, ab dem durchdringenden „Lovesick Lullaby“, wohl einem seiner besten und bislang durchdachtesten Songs, brennt es auf der Bühne fortan aus allen Ecken und Enden.
Archetyp des modernen Rockstars
Yungblud dirigiert das Publikum mit seinen Songs, mit seinen allumfassenden Ansagen und einer Wagenladung Charisma, die ihm wohl schon in frühen Kindheitstagen den Weg zum Bühnen-Exhibitionismus ebneten. Was er sagt, nimmt man ihm ab. Wenn er Wien und Österreich Liebesbekundungen ausspricht, kreischen die Fans. Wenn er das melancholische „Changes“ seinem „Freund Ozzy“ widmet und nach dem zweiten Refrain in Tränen ausbricht, hängt man an seinen Lippen. Wenn er einerseits oberkörperfrei den sexuell aufgeladenen Rock’n’Roll-Casanova spielt, dabei aber ständig auf Gleichberechtigung, Frieden und Liebe zwischen allen Menschen plädiert, wirkt das zu keiner Zeit aufgesetzt. Yungblud ist der Archetyp des modernen Rockstars. Er ist in seinen Grundansichten linksliberal und gefühlvoll, kann auf der Bühne zum sexy Rockmonster mutieren und schafft es wiederum mühelos, mit einem Streicherquartett, der Keyboarderin und seiner Bassistin einen klaren weiblichen Überhang in seiner Band zu schaffen.
Bei Yungblud wirken Posen oder Geschlechterquoten niemals kalkuliert, sondern völlig natürlich. Er liebt die Großen aus der Vergangenheit und schätzt Musik aus anderen Genres der Gegenwart. In einem Song wie „Fleabag“ (bei dem er einen Amstettner Fan auf die Bühne holt und ihm am Ende eine Gitarre schenkt) lässt er Oasis-Riffs von der Leine, gleichzeitig setzt er auf Rap, Punk, die Rolling Stones oder großspurige, orchestral anmutende Arrangements. Er ist optisch der geborene Rockstar, wirkt dabei aber unheimlich nahbar und geht mit seinen Fans oft und gerne auf Tuchfühlung. Die jungen Menschen lieben ihn für sein ausuferndes Selbstvertrauen und die Tatsache, dass er als Underdog mit psychischen Problemen eine Weltkarriere startete, während die älteren ihn dafür schätzen, dass er die musikalische Fackel der Rockgrößen weiterträgt und den Sound einer Generation zugänglich macht, die sich seit Jahren fast nur noch auf Rap, Mainstream-Pop oder elektronische Musik konzentriert. Yungblud pendelt gegenwärtig irgendwo zwischen Musterschüler, Muttis Liebling und Messias.
Das Stadion winkt bereits
Die offen zur Schau gestellten Gegensätzlichkeiten sind nur vermeintlich. Harrison zeigt uns, dass man lasziv am Mikroständer tanzen und trotzdem Feminist sein kann. Er kann dreckige Witze reißen, ohne dabei nach unten zu treten und er spricht trotz seiner überlebensgroßen Aura in seinen Texten die einfache Sprache des durchschnittlichen Bürgers mit all seinen Sorgen, Ängsten, Freuden und Nöten. Am Ende wirft sich Yungblud in die Menge und treibt die Stimmung an den Siedepunkt. Die Fans eröffnen Räume für Moshpits, springen im Kollektiv durch die Halle und hängen ihrem Chef-Charismatiker in fast schon religiöser Demut an den Lippen. Ermüdungserscheinungen kommen noch nicht einmal bei „Ghosts“ und der Pflegekraft-Hymne „Zombies“ auf. Yungblud bringt jungen Fans Ozzy Osbourne näher und impft den älteren wieder Dampf in die morschen Knochen. Sein 2023 im „Krone“-Interview geäußerter Wunsch, ein Stadion-Rocker werden zu wollen, ist so gut wie sicher erfüllbar. Ist Yungblud wirklich der Retter des Rock’n’Roll, dann kann sich dieser äußerst glücklich schätzen.

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