Radikalisierung beginnt selten mit Ideologie, doch oft mit einem Gefühl von Leere oder dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Was dann folgt, ist ein gefährlicher Kreislauf aus Manipulation, Gruppendruck und extremistischer Propaganda. Islamismus-Forscher und Gründer der Deradikalisierungs-NGO DERAD, Moussa Al-Hassan Diaw, über Netzwerke, die mitten in Österreich junge Menschen rekrutieren, und über den Kampf, sie zurückzuholen.
„Wir sehen inzwischen Zwölf- und 13-Jährige, die auf diesen Zug aufspringen“, sagt Diaw bei krone.tv. „Und das, obwohl die Sogwirkung des sogenannten Islamischen Staates eigentlich vorbei sein sollte.“
Die Ideologie bleibe aber das Bindeglied, sie schaffe Zugehörigkeit, klare Feindbilder und eine scheinbare Ordnung in einer unübersichtlichen Welt. „Diese Jugendlichen radikalisieren sich, weil hier Menschen Gesetze machen und nicht Gott. Sie glauben, in einem Kriegszustand zu leben, und handeln danach.“ Was früher in Online-Foren begann, spielt sich heute auf Instagram, TikTok oder Snapchat ab. Dort vernetzen sich Gruppen, organisieren Treffen, „heiraten“ Minderjährige unter religiösem Deckmantel.
„Das erinnert an sektenartige Strukturen“, sagt Diaw. „Die Mädchen werden gezielt angesprochen, unter Druck gesetzt und missbraucht – und das alles im Namen der Religion.“
Szene wächst auch in Oberösterreich
Besonders erschreckend: Die Rekrutierung findet mitten in Wien statt. „An Schulen, in Parks, in der Millennium City (wenn es kälter wird), dort werden Mädchen angesprochen, um sie ,gegroomt', wie man sagt.“ Die Szene sei sowohl online als auch offline eng vernetzt. In Wien gebe es Schwerpunkte im 8., 12. und 20. Bezirk, aber auch in Oberösterreich wachse die Szene. „Es gibt momentan eine ,Privatmoschee‘ in einem der Flächenbezirke, aber das ist den Behörden eh schon bekannt. Alle diese Personen kennen sich, direkt oder über soziale Netzwerke“, so der Islamismus-Forscher.
Auf die Frage, wie groß die extremistische Szene in Österreich sei, antwortet Diaw ohne Umschweife: „Sehr groß, weil ganz einfach gilt, was wir immer schon gesagt haben. Also jeder, der von dieser Ideologie überzeugt ist, ist quasi ein potenzieller Attentäter.“
Er erzählt von einem syrischen Flüchtling in Kärnten, der sich in kurzer Zeit radikalisiert hatte: „Er sagte, er hätte alle Frauen ohne Kopftuch am Hauptbahnhof umgebracht. So abgestumpft sind diese Menschen.“ Das perfide System funktioniere, weil es Menschen in „Freund“ und „Feind“ aufteilt. „Wer nicht so denkt wie sie, ist ein Feind – egal ob Muslim oder Nichtmuslim.“
Prävention zwischen Haft und Hoffnung
Viele der Radikalisierten landen im Gefängnis, andere in pädagogischen Programmen – etwa bei DERAD, der Nichtregierungsorganisation zur Deradikalisierung und Extremismus-Prävention, die Diaw gegründet hat. Dort arbeiten Expertinnen und Experten mit jungen Menschen, die bereits in extremistisches Gedankengut abgerutscht oder gefährdet sind, hineinzurutschen.
Doch Diaw sieht hier Nachholbedarf: „Es macht keinen Sinn, jemanden nach der Haft sofort wieder ein Handy zu geben, die Szene zieht ihn binnen Stunden zurück.“
Er verweist auf Oberösterreich, wo Haftaufschub als Druckmittel eingesetzt wird: „Dort sehen wir, dass Sanktionen Wirkung zeigen.“ Eine flächendeckende Prävention sieht er dennoch nicht: „Die Institutionen arbeiten zu wenig zusammen. Oft betreuen mehrere Stellen dieselben Personen, ohne voneinander zu wissen.“
Trotz vieler Rückschläge gibt Diaw nicht auf. „Deradikalisierung ist möglich – aber nur, wenn man das Weltbild selbst bearbeitet. Wer die Ideologie ignoriert, kann maximal Distanzierung erreichen, aber keine echte Veränderung.“ Was ihn frustriert, ist die fehlende Unterstützung. „Wir haben nicht einmal ein Backoffice, um die Verwaltungsarbeit zu stemmen. Und trotzdem versuchen wir jeden Tag, junge Menschen zurückzuholen.“
Hoffnung schöpft er aus den Fällen, in denen es gelingt. „Wenn jemand nach Jahren sagt: Ich will raus, ich will leben – dann weiß ich, dass die Arbeit etwas bewirkt.“
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