"Krone"-Interview

“Ägypten hat alle Prophezeiungen Lügen gestraft”

Österreich
17.08.2013 17:00
Hunderte Tote, Tausende Verletzte: Das Blutvergießen in Ägypten nimmt kein Ende. Im Interview mit Conny Bischofberger spricht ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary über seine Arbeit zwischen den Fronten.

Die Telefonleitung ins ORF-Büro an der Kairoer Niluferbrücke ist am Freitag viele Stunden lang unterbrochen. Um 20.05 Uhr, nach der Live-Schaltung in die "ZiB 20", hebt Karim El-Gawhary endlich ab. "Geben Sie mir nur noch eine Sekunde", bittet der ORF-Korrespondent, "ich muss sehen, ob meine Produzentin während der Ausgangssperre heil nach Hause gekommen ist."

Im Hintergrund spricht er auf Arabisch mit Lobna El-Shoky, die auch das Foto für dieses Interview aufgenommen hat. "Das war der Moment, als die Sicherheitskräfte das Protestlager im Osten von Kairo aufgelöst haben. Über meinem Kopf kreiste ein Helikopter, immer wieder hörten wir Schüsse, und Krankenwagen haben Verletzte aus dem Camp gebracht." Ein britischer Kameramann fragte das ORF-Team, ob die Straße sicher sei. El-Gawhary verneinte, aber Mick Deane von Sky News fuhr trotzdem rein. Stunden später war der 61-Jährige tot.

"Krone": Herr El-Gawhary, was denkt man sich, wenn ein Kollege von Scharfschützen hingerichtet wird?
Karim El-Gawhary: Möglichst wenig. Man macht seine Arbeit... Heute, beim Aufsager für die "ZiB 1", ist mir schon wieder so was passiert. Der Kameramann wollte noch weitergehen, aber ich hatte so ein ungutes Gefühl, deshalb habe ich gesagt: Nein, wir gehen hier nicht weiter. Eine halbe Stunde später feuerten dort die Scharfschützen, die überall auf den Dächern lauern.

"Krone": Haben Sie sowas wie ein inneres Warnsystem?
El-Gawhary: Ich weiß es nicht. Ich habe vielleicht auch einen großen Schutzengel. Und 20 Jahre Erfahrung. Da sagt mir das Bauchgefühl dann: Hier gefällt es mir nicht.

"Krone": In Ägypten sind letzte Woche mehrere Journalisten getötet worden – manche wurden auch verhaftet und misshandelt. Wie mutig muss ein Kriegsreporter sein?
El-Gawhary: Ich bin kein Kriegsreporter, ich war nie ein Kriegsreporter, ich will nie ein Kriegsreporter sein. Ich reise ja nicht von einem Krisenschauplatz zum nächsten und lasse mich mit dem Fallschirm absetzen. Ich lebe in dieser Region, und das schon seit den 90er-Jahren. Zu Ihrer Frage nach dem Mut: Ich bin nicht besonders mutig, eher vorsichtig. Ich stürze mich nicht in irgendwelche Abenteuer. Keine Geschichte ist es wert, dass man dabei stirbt und sie nicht einmal mehr erzählen kann...

"Krone": Haben Sie auch manchmal Todesangst?
El-Gawhary: Ans Sterben denkt man eigentlich nicht... Aber wenn ich auf der Fahrt durch Kairo alle paar Hundert Meter von irgendwelchen Jugendlichen angehalten werde, die meinen, sie müssten ihre eigenen Checkpoints aufbauen, dann habe ich schon ein mulmiges Gefühl. Hier laufen einfach viel zu viele Leute mit irgendwelchen Waffen durch die Gegend. Man weiß längst nicht mehr, mit wem man es eigentlich zu tun hat.

"Krone": Wie schwer ist es, objektiv zu bleiben, wenn man zwischen den Fronten steht?
El-Gawhary: Das ist in dieser aufgeheizten und polarisierten Atmosphäre ganz schwierig. In den Kommentaren zu meinem Facebook-Account werde ich deshalb auch angegriffen – aber beruhigenderweise von allen Seiten.

"Krone": Hunderte Tote, Tausende Verletzte: Wie gehen die Menschen in Ägypten mit dieser Tragödie um?
El-Gawhary: Wahrscheinlich sind es mehr als 1.000 Tote. Allein in der Moschee, in der mein Team war, lagen 200 Leichen... Was würden wir machen, wenn unser Freund neben uns stirbt durch einen Kopfschuss von irgendeinem Scharfschützen? Würden wir friedlich bleiben und weiterhin brav demonstrieren oder uns selbst eine Waffe holen? Was wir hier erleben, ist die Geburtsstunde einer sehr radikalen, islamistischen Bewegung in Ägypten.

"Krone": Ein Religionskrieg?
El-Gawhary: In der aufgeheizten Atmosphäre behaupten die Menschen genau das. Und es werden ja auch ständig Kirchen angegriffen. Aber in Wahrheit ist das kein Kampf zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, auch nicht so sehr eine Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Hier gehen Zivilisten gegen Zivilisten vor, und es ist zu befürchten, dass das ganze Land auseinanderfällt.

"Krone": Könnte das harte Vorgehen des Militärs auch eine Strategie sein?
El-Gawhary: Das habe ich zum Teil schon in dieser Weise analysiert. Die Muslimbruderschaft wurde von der Macht verdrängt, deshalb muss sie jetzt politisch isoliert werden. Sie so radikal werden zu lassen, ist eine gute Möglichkeit, sie brutal bekämpfen und international dämonisieren zu können. So gesehen wäre eine Radikalisierung der Islamisten von der Militärregierung möglicherweise gewünscht, wenn nicht sogar kalkuliert.

"Krone": Sie haben 200 Leichen erwähnt. Wie verkraftet man so was?
El-Gawhary: Meine 27-jährige Mitarbeiterin, eine Ägypterin, war danach ziemlich blass um die Nase, weil sie so etwas noch nie gesehen hat. Ich habe ihr gesagt: Es wird dich sicher in den nächsten Tagen noch in den Träumen verfolgen, ich kenne das.

"Krone": Verfolgt es Sie auch?
El-Gawhary: Manche Szenen doch, ja. Vor allem, wenn die Toten Kinder sind. Da ich selber Vater von drei Kindern bin, geht mir das wahrscheinlich besonders nahe. Es ist auch nicht angenehm, mit dem Kameramann am Abend über den Leichenbildern zu sitzen und jene Szenen rauszusuchen, die man überhaupt herzeigen kann.

"Krone": Wird Ihnen da nicht schlecht?
El-Gawhary: Man stumpft ab, wird abgehärtet, egal wie Sie es nennen wollen.

"Krone": Verstehen Sie Urlauber, die sich trotz Reisewarnung am Roten Meer die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, während 500 Kilometer weiter blutige Kämpfe stattfinden?
El-Gawhary: Einerseits finde ich es komisch, in so einem Land jetzt Urlaub zu machen. Andererseits weiß ich, wie verzweifelt die Menschen am Roten Meer an ihrem Einkommen hängen, und das haben sie durch den Tourismus. Jeder zehnte Arbeitsplatz in Ägypten hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab, da hängen die Existenzen von hunderttausend Familien dran.

"Krone": Wie geht es mit dem Land Ihrer Ansicht nach weiter?
El-Gawhary: Ägypten hat alle Prophezeiungen Lügen gestraft. Alles, was wir bisher vorausgesagt haben, ist so nicht eingetroffen. Am Anfang hieß es: Mubarak ist weg, jetzt wird die Zukunft demokratisch ausgehandelt. Dann hat der oberste Militärrat die Macht übernommen und alle sagten: Um Gottes Willen, jetzt haben wir eine Militärdiktatur! Dann kam Mursi und man hörte: Jetzt wird Ägypten ein islamischer Staat! Und jetzt, wo sie Mursi abgesetzt haben, heißt es: Ägypten wandert in den Bürgerkrieg. Ich hoffe, dass das nie eintreten wird.

"Krone": Was wäre Ihr Wunschszenario?
El-Gawhary: Wenn in einer Republik Saudi-Arabien eine Frau zur Präsidentin gewählt würde, dann könnte ich in Pension gehen. (lacht und präzisiert dann) Eine demokratische, säkulare Zukunft, in der Religion und Politik voneinander getrennt sind, in der sich die arabische Welt der Gleichberechtigung von Mann und Frau angenähert hat, in der nicht mehr Kriege und Krisen den Alltag der Menschen bestimmen, da wäre mein Wunschszenario.

"Krone": Herr El-Gawhary, Ihr Vater ist Ägypter, Ihre Mutter Deutsche. Haben Sie inzwischen auch etwas Österreichisches angenommen?
El-Gawhary: Gute Frage. Was ist österreichisch an mir geworden? Ich finde, ich habe durch meine zwei Nationalitäten viel Österreichisches. Die Deutschen haben so etwas Verbittertes, Überpünktliches, und die Ägypter sind irgendwie chaotisch. Die Österreicher stehen in der Mitte... Vielleicht komme ich deshalb mit den Österreichern so gut aus.

"Krone": Fühlen Sie sich manchmal wie ein Wanderer zwischen den Welten?
El-Gawhary: Zwischen Wassh dich schon oft fragen wollte, woher sprichst du eigentlich so gut Deutsch? Und in Kairo sagen sie zu mir: Warum sprichst du so komisch arabisch? Man gehört nirgends richtig dazu. Als Journalist ist das ein großer Vorteil: Beide Seiten genau zu kennen, aber doch einen gewissen Abstand zu wahren.

"Krone": Passen diese zwei Seiten zusammen?
El-Gawhary: Sie sind unterschiedlich und doch ähnlich. Auf beiden Seiten, egal ob in Europa oder in Arabien, haben die Menschen dieselben Träume und Vorstellungen. Sie wollen mit ihrem Geld auskommen, sie wünschen sich eine vernünftige Ausbildung für ihre Kinder, einfach ein gutes Leben. Nur kämpfen die Menschen hier mit viel, viel widrigeren Umständen, als es sich die Leute in Österreich je vorstellen können.

"Krone": Ist das auch Ihre journalistische Mission?
El-Gawhary: Ja, ich sehe mich vielleicht als eine Art interkultureller Mediator. Das ist ein viel größeres, befriedigenderes Motiv als drei oder vier Jahre aus einem Land zu berichten und dann ins nächste Korrespondentenbüro zu wechseln. Mein Platz ist bei den Menschen in Kairo. Ich will zeigen, wie Menschen Kriege überleben, wie sie sich organisieren, wie ihr Leben in so einer Krise abläuft. Immer wenn sich in Österreich jemand in seinem Fernsehsessel zurücklehnt und überlegt, wie würde es mir unter diesen Umständen gehen, dann habe ich gute Arbeit geleistet.

Er ist ein halber Ägypter
Geboren 1963 in München. Die Mutter ist Deutsche, der Vater Ägypter. El-Gawhary studiert Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2004 leitet er das Nahost-Büro des ORF in Kairo. Ausgezeichnet mit dem Concordia-Publizistikpreis. Verheiratet mit einer Amerikanerin, drei Kinder.

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