Musik und Fußball haben mehr gemeinsam als die meisten Ehepartner. Der deutsche Journalist und Autor Gunnar Leue wagt in seinem Buch „You‘ll Never Sing Alone“ eine chronologische Werkschau über die Verbindung dieser beiden Unterhaltungspole und zeichnet ein allumfassendes Bild der Verknüpfung über die letzten 160 Jahre. Ein Plichtbuch für passionierte Fans beider Sparten.
Wenn es um kleine, aber feine Undergroundbetrachtungen zwischen Punk, DDR-Musik oder abseitigem Indie-Couleur geht, ist der Ventil Verlag aus Deutschland immer eine gute Adresse. Ein - und das sei schon zu Beginn vermerkt - absoluter Volltreffer gelang mit dem Buch „You’ll Never Sing Alone - Wie Musik in den Fußball kam“. Dass Musik und Fußball die beiden besten Nebensachen der Welt sind, ist natürlich längst kein Geheimnis mehr. Zusammengerechnet ist in der gemeinsamen Historie schon allerlei Geniales, Obskures, Abnormes oder auch Sensationelles entstanden. Ein solches Monsterprojekt in Angriff zu nehmen und auf etwas mehr als 250 Seiten (davon viel Bildmaterial) zu komprimieren, war gewiss nicht leicht. Es ist dem Autor daher umso höher anzurechnen, dass er sich nicht in schwülstigen Details wälzt, sondern das Grundkorsett „Rundumschau“ nie außer Acht lässt.
Chronologische Rückschau
Gunnar Leue ist vom Fach und als freier Journalist bei so unterschiedlichen wie respektierten Publikation der Marke „taz“, „11 Freunde“ oder „Galore“ natürlich auch schon thematisch geeicht. Nebenbei hat er auch die Ausstellung „Der Sound des Fußballs“ kuratiert, ein Vinylalbum und ein Quartettspiel herausgebracht und sammelt Platten aus aller Herren Länder, die mit dem Überthema Fußball zu tun haben. Die Grundrecherche war also schon aus jahrzehntelanger Leidenschaft aufgebaut. Wie Leue dieses Wissen mit neuen Informationen und Details umsetzt, zeugt von wahrer Passion. Wenn - rein metaphorisch - die Plattennadel am Mittelkreis aufsetzt, beginnt der gebürtige Altmarker seine Rückschau chronologisch im Jahr 1863, als der Fußball seine ersten Babyschritte tat und im Sportwesen noch ein unbeachtetes Kuriosum war.
Mit Interesse verfolgt man die Urzeiten des Sports und seine ersten Querverbindungen mit Ton und Klang. Als in Großbritannien die ersten Entertainer auftraten, der Fußball ins Varieté-Theater einzog oder sich die Musik während verschiedener Kriege politisch in Aktion setzte. Man erfährt von Jodelquartetten in Zürich, vom südamerikanischen Kampf zwischen Samba und Tango oder auch davon, wie Musik schon vor gut 100 Jahren dem stark belächelten Frauenfußball frühe Hoffnung gab. Die ersten paar Kapitel sind unglaublich informativ, aber auch etwas sperrig, was schlichtweg damit zu tun hat, dass wir den Sport als Popkultur erst seit den späten 50er-Jahren verstehen. In geschickter Art und Weise verwebt Leue die Leidenschaft für den Sport mit der schleichenden Kommerzialisierung und erhebt immer wieder den Zeigefinger, ohne zu mahnend zu werden. Es spricht in erster Linie der Fan und nicht der Wirtschafter. Jene ruinieren Sport und Musik ohnehin schon seit geraumer Zeit.
Zwischen Gesang und Flow
Grob gesehen hantelt sich der Autor über die alle vier Jahre stattfindenden Weltmeisterschaften vor, von dort weg treiben seine inhaltlichen Äste in unterschiedlichste Richtungen aus. Man erfährt vom Aufkommen der Fangesänge, von der richtungsweisenden Verschmelzung der britischen Popkultur mit dem Mainstream-Fußball, aber auch von Musik als Protest, wie etwa in Algerien oder gegen die argentinische Militärjunta in den späten 70er-Jahren. So ist es heute kaum noch vorstellbar, dass sich ab der frühen 70er-Jahre von Pelé über Beckenbauer und Rummenigge bis hin zu Keegan, Krankl und Prohaska jeder Kicker, der etwas von sich hielt, vor das Mikro stellte. Was damals die Sportler waren, sind heute Rapper wie Capital Bra, die ihrer Liebe zum Fußball mit viel Flow Ausdruck verleihen und mit direkt auf Spieler wie Alaba und Benzema zugeschnittene Songs deren immensen Marktwert auf Social Media weiter steigern.
„You’ll Never Sing Alone“ nimmt im musikballesterischen Kontext die exakt selbe Richtung ein, wie sich beide Bereiche in der Realität entwickelten - von der kuriosen Fusionierung zweier grundverschiedener Welten zu den gewaltigsten und umsatzstärksten Unterhaltungsbranchen des Globus. Leue zieht in seinen Geschichten immer wieder einen Bogen zu gesellschaftlichen Veränderungen wie der Einführung von Sponsoren, dem großen Gamechanger Pay-TV, dem alles verändernden Internet oder dem für Transfers richtungsweisenden Bosman-Urteil in den 90er-Jahren. So ist das Werk nicht nur ein kompaktes Sammelsurium für thematische Trüffelschnüffler, sondern dient auch als Nostalgiebogen zu vielleicht vergessenen oder in irgendwelche Hirnwinkel verschobenen Ereignissen aus der Fußballgeschichte, die in unterschiedlichster Ausprägung verändernd einwirkten. Am Interessantesten sind natürlich jene Kapitel, die noch nicht auf dermaßen breite Aufmerksamkeit stießen.
Viel Detailreichtum
Hätten Sie etwa gewusst, dass das renommierte italienische Sanremo-Festival für den Fußball ähnlich wichtig war wie die Musik? Dass ein britischer Punk-Musiker seinen ganzen Lebensinhalt auf seinen Lieblingsverein aufgebaut hat? Dass das deutsche Nationalteam einst bei einer Weltmeisterschaft einen angestammten Begleitmusiker hatte? Die einzelnen Kapitel sind locker und humorig geschrieben, über das stellenweise gar zu deutsche Idiom lässt sich hinwegsehen, nachdem die Hauptzielgruppe ebendort verortet ist. Zu besonders interessanten Themen gibt es in eigens markierten Kästen kurze Interviews oder weiterführende Details, auch ein paar Listen und Statistiken dürfen nicht fehlen. Dazu garniert Leue den gesamten Band mit Single- und LP-Covers aus seiner reichhaltigen, alle Dekaden umfassenden Plattensammlung und gibt vielen Storys ein Gesicht. Besonders dankbar ist man für das Vorwort von St.-Pauli-Fan und Musiker Thees Uhlmann. Im schlimmsten Fall hätten ja auch die Sportfreunde Stiller ihren Senf abgeben können …
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