ORF-Russland-Korrespondent und „Journalist des Jahres“ - Paul Krisai - im „Krone“-Interview über Propaganda, Balance und wie er Kindern den Krieg erklärt.
„Krone“: Herr Krisai, Sie wurden für „unaufgeregte Analysen trotz schwieriger gesetzlicher Rahmenbedingungen in Moskau“ gewürdigt: Wie sehr ehrt Sie der Titel „Journalist des Jahres“ und wie bewahren Sie Ruhe, unter Umständen, die sich so sehr von unseren unterscheiden?
Paul Krisai: Es ist natürlich eine große Ehre und eine tolle Anerkennung für die Arbeit, die unser gesamtes Team im ORF-Büro Moskau tagtäglich macht. Die Arbeit beim Fernsehen ist wie Teamsport. Für mich ist diese Auszeichnung ein Auftrag, gemeinsam mit meinen Kolleginnen Miriam Beller und Carola Schneider weiterhin so gut wie möglich die Berichterstattung aus Russland weiterzuführen und die Geschichten aus diesem Land zu erzählen, die uns Einblick in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik geben. Die Ruhe kommt mit der Übung. Wenn ich mir heute meine erste TV-Liveschaltung anschaue, und die ist erst ein paar Jahre her, dann muss ich gleich mehrere Augen zudrücken. Aber es ist auch völlig normal, nervös zu sein. Schön ist es, wenn man sich entwickeln kann und später zurückschaut und sich denkt: Das könnte ich jetzt besser. Abgesehen davon ist natürlich die inhaltliche Vorbereitung das allerwichtigste. Das macht jeder anders. Ich formuliere mir gerne jedes Wort am Papier aus - auch, weil es bei der Berichterstattung unter Zensur stark auf die Wortwahl ankommt. Wir sprechen nach wie vor von einem „Krieg, der in Russland Spezialoperation heißen muss“, um für das Publikum die Bedingungen transparent zu machen, unter denen wir berichten. Klar war da nach Einführung der Zensur eine gewisse Unsicherheit: Was passiert jetzt, wenn ich mich auf Sendung verspreche? Das fühlt am Anfang schon an wie der berühmte Balanciergang übers Drahtseil. Aber auch hier stellt sich mit der Zeit eine gewisse Routine ein.
Wie wirken sich diese Umstände auf Ihre Berichterstattung und Arbeit aus?
Im Gegensatz zu den Menschen in der Ukraine befinden wir uns physisch in Sicherheit. Die Bedrohung ist in unserem Fall unsichtbar: Es gibt nicht wie zu Sowjetzeiten einen Zensor oder eine Kommission, niemand streicht Wörter aus unseren Berichten. Aber die russischen Gesetze machen es notwendig, von einer „Spezialoperation“ zu sprechen und sie machen eine direkte Berichterstattung über das militärische Geschehen in der Ukraine von russischem Boden aus schwer bis gar nicht möglich. Wir geben diesen Teil der Berichterstattung daher an Christian Wehrschütz in der Ukraine und die Redaktion in Wien ab. Beim Publikum bleibt somit ein rundes Gesamtbild in der Berichterstattung erhalten. Aus Moskau liefern wir Hintergründe und Analysen beispielsweise zur Politik Putins, zu Wirtschaft und Sanktionen und zur Stimmung im Land. Was wir merken: Es gibt immer weniger Experten in Russland, die zu Interviews bereit sind, und es ist oft nicht leicht, Menschen auf der Straße zu filmen. Wichtigstes Gebot ist dabei immer, die Sicherheit der Interviewpartner und natürlich unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten. Trotz dieser Widrigkeiten bietet es für uns Journalist:innen einen enormen Mehrwert, vor Ort zu sein und berichten zu können, ohne auf Fremdquellen angewiesen zu sein.
Wie erleben Sie die Kriegspropaganda in Russland?
Wenn ich aus dem Haus gehe, sehe ich nach 50 Metern schon eines der Plakate der „Helden Russlands“. Darauf werden einzelne Soldaten gezeigt, die in der Ukraine im Einsatz sind. Wenn ich in den bekannten Gorki-Park im Zentrum von Moskau gehe, muss ich an einem riesigen „Z“-Buchstaben vorbei, dem Symbol der „Spezialoperation“. Derselbe Buchstabe ziert eine gesamte Theaterfassade im Norden des Stadtzentrums. Abgesehen von diesen sichtbaren Symbolen gibt es im Alltag allerdings kaum direkte Hinweise auf die Gewalt, die nur ein paar Hundert Kilometer entfernt in der Ukraine passiert. Man hört sie nicht, sieht sie nicht, spürt sie nicht - wenn man sich nicht informiert. Die Kriegspropaganda findet vor allem im Staatsfernsehen statt, dort dafür umso aggressiver.
Wie erklären Sie Kindern, die in einer „friedvollen“ Welt aufwachsen, Krieg?
Jede Generation kämpft mit ihren eigenen Herausforderungen. Aber die jungen Menschen von heute haben es mit Pandemie, Krieg in Europa und der weltweiten Klimakrise schon recht heftig erwischt. Ich denke da immer an meine siebenjährige Nichte. Sie wächst in einer Welt auf, die sicher nicht perfekt ist - wann war sie das schon -, aber vielleicht kann es auch eine Zeit der Möglichkeiten sein. Wer wie sie mit dem Bewusstsein aufwächst, dass Krieg schlecht ist und um jeden Preis zu verhindern ist, der wird sich im Erwachsenenalter umso beherzter für den Frieden engagieren. Wobei uns die Gräuel des Zweiten Weltkriegs allein schon genug Grund für dieses Engagement bieten.
Jetzt kann man Berufliches von Privatem - Fakten von Emotionen trennen. Aber: Was machen die Ereignisse, die Sie vor Ort erleben, mit Ihnen?
Die Eltern des Moskauer Oppositionspolitikers Ilja Jaschin im Gerichtssaal zu sehen, während ihr Sohn zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt wird, weil er über die Gräueltaten von Butscha gesprochen hat - das sind Momente, die bewegen. Als Journalist sehe ich mich als Zeuge, da hat Emotion keinen Platz. Menschlich ist es eine riesige Tragödie, die sich derzeit vor unseren Augen abspielt.
Auf Instagram nennen Sie sich weiters „Teilzeit Abenteurer“ und „Vollzeit Radfahrer“. Wie und wo auf der Welt erleben Sie am liebsten diese Abenteuer und mit wem?
Ich bin glücklich, wenn ich auf einem Fahrrad sitze - egal wo und wann. Während der Studienzeit hatte ich mehr Zeit für Radtouren durch Europa, mit Zelt und Gepäck. Vielleicht geht sich das irgendwann wieder öfter aus. Derzeit reise ich, wenn Zeit dafür ist, am liebsten mit meiner Freundin gemeinsam.
Was wünschen Sie sich beruflich und privat für das neue Jahr?
Es war ein Jahr der menschlichen Tragödien, das viel Leid und Elend gebracht hat. Vor allem natürlich für die Menschen in der Ukraine, aber die Auswirkungen der Gewalt sind auf der ganzen Welt spürbar, zumindest wirtschaftlich. Persönlich und beruflich habe ich viel gelernt, und dieser Lernprozess geht natürlich weiter - nur mit Wissensdurst und persönlichem Einsatz kann man versuchen, das auszugleichen, was einem vielleicht an Erfahrung fehlt. Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein friedlicheres Jahr 2023, Gesundheit und Glück für meine Familie und Freunde und ein baldiges Ende der Gewalt.
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