Schneider-Serie

„Robert, sind wir nicht gesegnet?“

Vorarlberg
16.10.2022 08:25

In seiner Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitet Robert Schneider Vorarlberger an die Lieblingsplätze ihrer Kindheit. Im Montafon traf er jüngst den Gaschurner Altbürgermeister Heinrich Sandrell.

Ich stehe vor dem Gemeindeamt in Gaschurn und warte. Plötzlich höre ich eine Stimme. „Du bist eine Minute zu früh!“ Ein silbergrauer Suzuki mit herabgelassener Fahrerscheibe ist herangefahren. Ein altbekanntes Gesicht lacht mich aus dem Auto heraus an: Heinrich Sandrell, der legendäre Bürgermeister von Gaschurn. Er zählte, gemeinsam mit seinem inzwischen verstorbenen Amtskollegen Erich Brunner aus Klösterle, zu jener Sorte von Dorfpolitikern, die ihre Anliegen auf oft sonderbaren Wegen durgesetzt haben. In einer Mischung aus Hemdsärmeligkeit, Lausbubencharme und enormer Großzügigkeit, vorbei am Dschungel der Verordnungen und dem allseits bekannten, behördlichen Geht-nicht. „Geht nicht, gab es nie.“ Das war immer die Devise von Heinrich Sandrell.

„War vielleicht nicht immer alles grün, was ich getan habe“, sagt er, klopft dabei eine Prise Schnupftabak aus einem silbernen Döschen auf den Handrücken, „aber ich habe es nie für mich selbst getan.“ Und das glaubt ihm jeder in Gaschurn aufs Wort. Wie in Erich Brunners Johanniter-Keller oft bis früh morgens Wein geflossen ist, um den hohen Beamten aus Wien das eine oder andere Anliegen plausibel zu machen, nahm Heinrich Sandrell in ebendieser Großzügigkeit wie Schlitzohrigkeit seine „schwierigen Fälle“ unter die Fittiche, fuhr mit ihnen ins Valschaviel, dem größten Maisäß in Vorarlberg, wo er von Alters her eine Almhütte besitzt. Berauscht von der Schönheit dieses bizarr-wilden Tals (und wohl auch noch vom Wein), kehrte man dann zurück und hatte erreicht, was man wollte.

Aber auch Persönlichkeiten aus der Film- und Theaterwelt haben auf seinem Maisäß genächtigt. Joseph Vilsmaier, Gaby Hauptmann oder Uschi Glas, die, wie Sandrell sich erinnert, „damals gerade furchtbar geknickt war, weil ihre Kosmetiklinie nicht lief. Da habe ich zu ihr gesagt: Sei nicht so gierig! Da drüben ist ein kleiner Bildstock. Da betest du jetzt zur Muttergottes.“ Dankbar habe sie ihm Wochen später zurückgeschrieben. Es sei so vollendet schön gewesen im Valschaviel. Ich steige zu ihm ins Auto. Wir fahren in das besagte Tal, das im Norden durch den Madererkamm begrenzt wird, den Bergen der Verwallgruppe.

Naturverbunden und von tiefer Gläubigkeit
Immer wieder bleibt Sandrell stehen und erzählt. Er kennt dieses Tal aus Kindertagen. Jede Wegbiegung ist ihm vertraut. „Der Valschavielbach kann bei einem Unwetter im Handumdrehen gewaltig anschwellen. So schnell kannst du gar nicht schauen. Und im Winter ist es hier sehr gefährlich wegen der Lawinen.“ Es geht auf einer holprigen Straße auf und ab. In einer schattigen Biegung, wo ein großer Findling liegt, hält Sandrell wieder seinen Wagen an und bleibt vor einem Bildstock stehen. „Hier kam der Vater einer 16-köpfigen Familie ums Leben.“ Sandrell bekreuzigt sich. Wie mir überhaupt seine tiefe Gläubigkeit ins Auge springt. Das ist nichts Aufgesetztes oder gar Geheucheltes bei dem nunmehr 71-Jährigen. Sein Wertekanon ist einfach: ehrliche Frömmigkeit und tiefe Verehrung für die Altvorderen. „Meine Eltern, die wirklich karge Bergbauern waren, haben mir diesen Satz mitgegeben: Sei ehrlich, sei fleißig, denke logisch und vergiss den Herrgott nicht.“

Ein Paradies, das sich nie abgenutzt hat
An einem Fischweiher, den seine Söhne so geschickt in die Landschaft gelegt haben, dass man glaubt, er sei immer da gewesen, bleiben wir wieder stehen. Heinrich Sandrell steigt aus dem Wagen, nimmt einen Hirtenstock aus dem Kofferraum, der sich oben zu gabelt, und in dessen Enden zwei Kreuze geritzt sind. Er geht zum Teich und gibt seltsame Laute von sich. „Du wirst jetzt nicht noch wie der Hl. Franziskus mit den Fischen reden!“, rufe ich. Er hört es gar nicht und redet mit den Fischen. Dieser Mann wirkt so glücklich in der Landschaft seiner Kindheit, dass man selber staunt und fast ein wenig neidisch wird. „Wie oft bin ich in Vollmondnächten noch schnell hier herein gefahren! Nach langen Gemeindesitzungen, manchmal nachts um Zwölf oder Eins. Es gab einen Sommer, da bin ich vierundzwanzig Mal hier gewesen.“

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Meine Eltern, die wirklich karge Bergbauern waren, haben mir diesen Satz mitgegeben: Sei ehrlich, sei fleißig, denke logisch und vergiss den Herrgott nicht.

Heinrich Sandrell

Wir fahren weiter, und Heinrich erzählt und erzählt. „Mein Vater war eigentlich der letzte Bauer, der noch hier herauf in die Heumäder gegangen ist.“ Wir bleiben wieder stehen, und er erklärt mir, was es mit den vielen, verfallenen Steinmauern auf sich hat. „Das waren so genannte Bargen, eine Art überdachte Heustöcke. Die Bauern haben hier das Heu gelagert, das sie dann im Winter auf Schlitten bis hinaus nach Gaschurn gezogen haben. Meistens hatten solche Bargen auch noch einen kleinen Nebenraum, in dem man Feuer machen konnte und schlafen. Da haben einem die Augen getränt, und vor lauter Rauch hast du fast keine Luft mehr bekommen.“ Die Überreste dieser vielen, kleinen Steingewerke bringen manchen Touristen zum Staunen, denn sie finden sich noch in schwindelerregender Höhe. „Die Bergbauern von damals haben wirklich um jeden ’Heupatsch’ gerungen“, erzählt Sandrell. „Noch mein Vater pflegte zu sagen, dass jeder Sensenhieb ein Maul voll Heu sei und eben darum so kostbar.“

„Und jetzt gibt es noch eine Marend“
Das Ende unserer Begegnung bildet die obligate Einladung auf Sandrells Almhütte, dort, wo Uschi Glas vor dem Bildstock um ein selbstloseres Leben gebetet hat. Dort, wo der Oscar-Preisträger Rolf Zehetbauer („Cabaret“) von der steilen Holztreppe mit dem Gesicht voraus in einen Kuhfladen gestürzt ist. Dort, wo vermutlich so mancher Landespolitiker dem eigentlichen Anliegen Sandrells dann doch etwas entgegenkam.„Jetzt gibt es noch eine Marend“, kündigt Heinrich an und beginnt aufzutischen. Weissdorn vom Pfarrer Joe, dem legendären Kräutersammler und Schnapsbrenner aus Gaschurn, Hirschwürste und Kekse, die ich meinen drei Buben mitbringen soll. Und er hört nicht auf zu schwärmen: „Robert, sind wir nicht gesegnet? Schau dir diese Landschaft an!“

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