„Es läuft für ihn“

Experte: Putin hat keinen Grund zum Verhandeln

Ausland
29.05.2022 12:16

Geht es nach dem deutschen Politikwissenschaftler Carlo Masala, dann sieht der russische Präsident Wladimir Putin zurzeit keinerlei Grund zu Verhandlungen mit der Ukraine. Der Kreml-Chef werde erst dann ernsthaft zu verhandeln beginnen, wenn er befürchten müsse, bei einer Fortführung des Krieges mehr zu verlieren als zu gewinnen, sagt der Professor für Internationale Politik, der der These, die NATO habe den Ukraine-Krieg mitverschuldet, widerspricht.

„Es läuft für ihn. Von daher gibt es überhaupt keinen Anreiz, sich in diese Verhandlungen hineinzubegeben“, erklärte Masala, der einen Lehrstuhl für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München hat, gegenüber der dpa.

Nach Einschätzung Masalas lassen sich die jüngsten militärischen Erfolge der russischen Armee im Donbass auf zwei Ursachen zurückführen: Zum einen fehle es den Ukrainern an schweren Waffen, zum anderen hätten die Russen ihre Strategie erfolgreich geändert. „Im Gegensatz zum bisherigen Kriegsverlauf gehen sie nicht mehr an breiten Abschnitten der Front vor, sondern ziehen ihre Truppen zusammen, um an kleinen Stücken der Front voranzukommen. Dadurch haben sie derzeit eine personelle Überlegenheit.“

Ukraine plant Gegenoffensive im Juni
Für die Ukraine stelle sich nun die Frage, ob sie bestimmte Gebiete aufgebe (was Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits hat anklingen lassen, Anm.), weil ansonsten die Gefahr bestehe, dass dort Truppen eingekesselt würden und dann vielleicht in Kriegsgefangenschaft gerieten. Konkret gehe es zum Beispiel um die Stadt Sewerodonezk. „Wenn die Russen diese Stadt einnehmen, haben sie den Oblast (Verwaltungsbezirk; Anm.) Luhansk fast komplett unter ihrer Kontrolle“, sagte Masala. Ganz entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf sei jetzt, welchen Erfolg die von der Ukraine für Juni angekündigte Gegenoffensive haben werde.

Um die Aussichten der Ukraine dafür zu verbessern, plädiert Masala deshalb für die Lieferung schwerer Waffen. „Man muss die Kosten-Nutzen-Kalkulation bei Putin verändern“, sagt er. Wenn es dann irgendwann tatsächlich zu Verhandlungen kommen sollte, würden diese außerordentlich schwierig werden. „Und zwar einfach deshalb, weil die Ukraine kein Territorium aufgeben will und sich die Russen nicht aus der Ukraine zurückziehen wollen. Deshalb werden uns diese Verhandlungen lange begleiten. Die Waffenstillstände werden sehr instabil sein, die Kämpfe werden immer wieder aufflammen. Das ist kein Prozess von zwei oder drei Wochen.“

Selenskyj habe bereits klargestellt, dass jedes Verhandlungsergebnis in einem Referendum von der Bevölkerung gebilligt werden müsse. „Denn ansonsten ist es nicht belastbar. Dann wird es in einem Chaos enden“, warnte Masala.

„Putins Position im Moment nicht gefährdet“
Dass Putin für sein politisches und vielleicht auch physisches Überleben auf einen Erfolg angewiesen ist, glaubt Masala nicht. „Es ist ja im Moment so: Putin führt einen Krieg, der Russland hohe ökonomische Kosten verursacht, und es fällt ihm niemand in den Arm. Das interne Machtsystem scheint also stabil. Zudem kann Putin über den staatlichen Propagandaapparat nach innen hin sehr viel als Sieg verkaufen. Ich gehe nicht davon aus, dass seine Position gefährdet ist.“

Über Putins derzeitige Kriegsziele könne man nur spekulieren. „Ob es ihm reicht, der Ukraine den Donbass und die Landbrücke zur Krim zu entreißen - was immerhin 15 bis 20 Prozent des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland entsprechen würde -, oder ob er mehr will, das wissen wir nicht. Er hat mehr angekündigt.“ Es gebe Spekulationen, wonach Putin aus dem konsolidierten Donbass auch wieder Angriffe auf die Hauptstadt Kiew ausführen wolle.

Zwar erhalte die Ukraine Militärhilfe aus dem Westen, aber auch Putin habe sein Pulver noch nicht verschossen. Er könne zum Beispiel einen Kriegszustand ausrufen und dann eine Generalmobilisierung anordnen. „Er scheut aus guten Gründen davor zurück“, sagte Masala, „aber auch er hat noch Optionen.“

NATO hat Russland nicht eingekreist
Der These, die NATO habe Russland eingekreist und den Ukraine-Krieg dadurch mitverschuldet, kann Masala nichts abgewinnen. Er verweist auf die baltischen Staaten, die eine gemeinsame Grenze zu Russland haben. „Ich glaube, da kann man nicht von einkreisen sprechen“, sagte er am Samstag. Zudem hat auch Norwegen eine Grenze zu Russland - zählt man die russische Enklave Kaliningrad mit, grenzt auch Polen an das Land.

Das Verteidigungsbündnis habe außerdem 1997 im NATO-Russland-Grundlagenvertrag versprochen, auf dem Gebiet ihrer neuen Mitglieder keine Nuklearwaffen zu stationieren, keine Hauptquartiere und keine substanziellen Kampfverbände. „Die NATO hat sich bis 2022 daran gehalten“, so Masala. Selbst nach der Annexion der Krim 2014 habe man penibel darauf geachtet, nicht dagegen zu verstoßen.

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