Album „Plastic Hearts“

Miley Cyrus: Endlich mit sich selbst im Reinen

Musik
27.11.2020 06:00

Mit der ewigen Bürde des Kinderstars versucht Superstar Miley Cyrus auf ihrem siebenten Album „Plastic Hearts“ einmal mehr, sich selbst zu finden und neu zu erfinden. Das gelingt ihr durch die Mischung aus Pop, Disco, Rock und nachdenklichen Momenten besser als gedacht, lässt aber noch Raum vor mehr offen. 

(Bild: kmm)

Wenn ein Jahr in seiner Ganzheitlichkeit so unberechenbar und unvorhersehbar wie 2020 wird, dann muss man auch als Künstlerin spontan sein. Miley Cyrus zeigte zu Neujahr noch großen Kampfgeist, als sie auf ihren Social-Media-Kanälen die Highlights der letzten Dekade hochlud und eine neue Ära versprach. Dass diese Ära von einem global grassierenden Virus geprägt werden würde war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal im fernen China absehbar. Vorgeplant wurde bereits in den Jahren davor. Mit dem eher am Country angelehnten 2017er Rundling „Younger Now“ wurden weder die Fans noch die Kritiker wirklich warm. Cyrus selbst sah man wenig später eine gewisse Lethargie an, schließlich hat sie das Album auch nicht betourt, was einem Selbsteingeständnis gleichkam. Der neue Plan wurde 2019 geschmiedet. Das kommende Album solle „She Is Miley Cyrus“ heißen und von den drei EPs „She Is Coming“, „She Is Here“ und „She Is Everything“ flankiert werden. Wärme und Kälte, Licht und Dunkelheit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - all das wollte sie musikalisch abbilden und sich damit selbst ein Denkmal setzen.

Schicksalsschläge
Dann schlug das Schicksal zu. Im August 2019 kam die Trennung von Ehemann Liam Hemsworth, weswegen Miley mit einigen davor geschriebenen Songs nicht mehr ganz glücklich war, danach folgte eine Stimmbandoperation und zu guter Letzt kam ihr nun auch die Pandemie in die Quere. Die endgültige Absage der angekündigten EPs kam diesen Sommer mit der Veröffentlichung der Single „Midnight Sky“, die sich - wohl auch zu Mileys Überraschung - sofort in den Gehörgängen der Fans und Rotationslisten der Radiosender festsetzte und einem fulminanten Comeback gleichkam. Cyrus musste ein weiteres Mal neu adaptieren. Zwischenzeitlich wollte die mittlerweile 28-Jährige dem Albumformat allgemein den Rücken zuzukehren und - dem Hitparadenmarkt entsprechend - nur mehr Singles veröffentlichen. Von dieser Position gab es schnell eine Kehrtwende.

Wenig später gab sie bekannt, dass die Fans auch nach drei Jahren nicht mit einem neuen Album rechnen bräuchten, weil es ohne eine dazugehörige Tour keinen Sinn machen würde - bis auch dieser Plan ad absurdum geführt wurde und Miley ihr neues Werk nun wenige Tage nach ihrem Geburtstag veröffentlicht. Und zwar nicht als „She Is Miley Cyrus“ sondern unter dem Namen „Plastic Hearts“. Es soll nun eine fulminante Rückkehr dorthin sein, wo sich Cyrus wohlfühlt und daheim ist - in den Radios und Streaminglisten, auf den Plattentellern und Bühnen dieser Welt. Nach der Scheidung, der Stimmband-OP, den Tod der geliebten Großmutter und einem Hausbrand in Malibu ist es für die gerade mal 28-Jährige mit einer gefühlt Dekaden andauernden Karriere möglicherweise auch die letzte Chance, um musikalisch für Aufsehen zu sorgen, was angesichts der nicht schlafenden und beständig veröffentlichenden Konkurrenz von Taylor Swift über Lady Gaga bis hin zu Dua Lipa von immenser Wichtigkeit ist.

Quer durch den Garten
Letztere hat sich Cyrus dafür für die Single-Auskoppelung „Prisoner“ geschnappt, die mit ihrer 80er-Disco-Ausrichtung zwar perfekt auf die albanischstämmige Künstlerin Lipa zugeschnitten ist, aber nicht unbedingt die Klangfarbe von „Plastic Hearts“ widerspiegelt. Die Inspirationsquellen sollen von Britney Spears bis Metallica reichen und diese abgefahrene, aber durchaus zeitgemäße Buntheit zieht sich stringent durch die zwölf neuen Songs, die nichts mehr mit der trockenen Ursprünglichkeit von „Younger Now“ zu tun haben. Miley Cyrus anno 2020 steht skurrilerweise für die Generation Streaming, obwohl sie aufgrund geschickten Songwritings und einer ganzen Wagenladung Hitproduzenten von Louis Bell über Andrew Watt bis hin zu Superstar Mark Ronson gar nicht zwingend auf Singles bauen muss, sondern mit einem vollen Album auf Langstrecke überzeugen kann. Dabei sollte man sich aber nicht vom Cover-Artwork in die Irre leiten lassen. Das Foto stammt von Mick Rock, der einst weibliche Rock-Legenden wie Joan Jett und Debbie Harry zu inszenieren wusste, doch die angesagten Disco- und Retropfade lässt Wildfang Miley deshalb nicht beiseite.

Die vorab veröffentlichten Songs „Prisoner“ und „Midnight Sky“ atmen den Dancefloor-Duft am Intensivsten, doch auch das mit Genre-Legende Billy Idol eingespielte „Night Crawling“ macht seine beste Figur in jenen Räumen, die uns derzeit verschlossen bleiben. Für nachdenkliche und zurückgelehnte Momente ist im Cyrus-Kosmos nur selten Platz, doch dafür leuchten solche Songs umso heller. Etwa das von ihrer eindringlich-rauen Stimme getragene „High“, das sich auch gut im Liveprogramm von Papa Billy Ray machen würde und noch am ehesten die Metamorphose von der unschuldigen Hannah Montana zur Stetson-tragenden Vollblutamerikanerin im ruralen Bereich heraufbeschwören lässt. Auch „Never Be Me“ betört mit Mid-Tempo und fein akzentuierter Melancholie. Den Rock-Gestus lässt Miley in den richtigen Momenten vorpreschen. Etwa beim gestöhnten und auf Dauer etwas mühsamen Joan Jett-Feature in „Bad Karma“ oder auch im ruppigeren Titeltrack, der sich klanglich wie ein Mantel um die bisherige Karriere der Erfolgskünstlerin legt. Doch gerade durch die zeitlosen Rocknummern folgt Cyrus den Trends weniger stark als es so manche ihrer Mitbewerberinnen macht.

Einfach alles
Mit „Plastic Hearts“ wildert Miley Cyrus quer durch alle Emotionssparten und lässt gleichermaßen die wilde und kompromisslose, aber auch die nachdenkliche und in sich gekehrte Seite an die Oberfläche schwappen. Von der Frontalsexualisierung mit beständigem Twerking, lasziven Zungenspielen und nackten Tatsachen ist nicht mehr allzu viel übrig. Züchtigkeit darf man Cyrus freilich nicht attestieren, auf „Plastic Hearts“ zeigt sich der Nashville-Superstar aber nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich deutlich gereift. Die Cover-Versionen von Nirvana, Led Zeppelin und eben auch Metallica haben die letzten Jahre über öfters bewiesen, dass sich Cyrus ein neues, wesentlich erdigeres Image zulegen möchte. Dass sie ihr „Rockalbum“, wie sie „Plastic Hearts“ im Vorfeld gerne bezeichnete, doch mit einigen Mainstream-Pophits würzt, ist aber vielmehr geschicktem Hitparadenkalkül als mangelnder Geradlinigkeit geschuldet. Ehemaliger Kinderstar oder lasziver Vamp? Heilige oder Hure? Pop-Sternchen oder ernsthafte Stimme in der Musikwelt? Miley Cyrus kann und will eben alles sein - und das hat mehr Vorbildwirkung als ihr dauernörgelnde Kritiker verbohrt zugestehen…

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