Bald live in Wien

Integrity: Ursuppe des unverfälschten Metalcore

Musik
14.12.2025 06:00

Mit seiner Band Integrity begründete Frontmann Dwid Hellion 1988 die ersten Spuren des heute so populären und musikalisch total ausgefransten Subgenres Metalcore. Im „Krone“-Talk spricht er über die Anfänge, was ihm Musik bedeutet und warum er sich immer gegen Szenegesetze stemmte – am 15. Dezember spielen Integrity in der Wiener Arena.

kmm

Teenager haben oft eine seltsame Vorstellungskraft. Der 16-jährige Dwid Hellion kreierte in seiner alten Heimat Cleveland falsche Bandlogos und Geschichten, um der ruralen Tristesse seiner Heimat Mitte Ende der 80er-Jahre zu entfliehen. Eine solche Kopfstory war die Band Integrity, die als brutalste und kompromissloseste Straight-Edge-Combo (völliger Verzicht auf jegliche Art von Drogen – Anm. d. Verf.) aller Zeiten trinkende Konzertbesucher attackieren soll. Mit Aaron Melnick, Tom Front und Tony Pines fand er 1988 drei Mitstreiter, die zur Bandgründung führten – der Rest ist globale Hardcore-Geschichte. Knapp 40 Jahre später ist längst nur noch Hellion übrig, der mittlerweile, seit mehreren Dekaden, in Belgien wohnt und daher öfters in Europa auf der Bühne steht. Mit Integrity begründete er nicht nur ein Lebensprojekt, sondern strenggenommen auch das Subgenre Metalcore, was vor allem am famosen Debütalbum „Those Who Fear Tomorrow“ (1991) liegt, das das renommierte „Revolver“-Magazin einmal als Vorlage „für jeden Breakdown der Hardcore-Musikhistorie“ bezeichnete.

Aufbrechen von Strukturen
Ein Masterplan steckte nie dahinter, wie Hellion im „Krone“-Talk erzählt. „Wir haben einfach Musik gemacht. Zuerst eine EP, dann kam ein Plattenvertrag, dann ein Album, dann die erste Europatour. Alles Schritt für Schritt. Ich war damals noch ein Kind und hatte keine Ahnung von nichts.“ Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre waren sich Metal- und Hardcore- bzw. Punkfans spinnefeind. Integrity waren noch lange vor Acts wie Hatebreed, Converge und Co. die allererste Band, die beide aggressiven, aber sich diametral gegenüberstehenden Stile vermischte. „Jeder hasste jeden und wollte nur, dass seine favorisierte Musik existiert“, schmunzelt der Mittfünfziger heute darüber, „das habe ich nie verstanden. Ich habe doch auch nicht Lust, jeden Tag dasselbe zu essen, warum sollte ich dann immer den gleichen Sound hören wollen? Ich habe mich einen Dreck darum geschert, ob den Hardcore-Fans die Texte gefallen oder sie ein Gitarrensolo hören werden. Wenn es für mich passte, habe ich es verwendet. So entstand der Sound von Integrity“.

Die Band war prinzipiell ein Ventil, um Teenager-Wut und persönliche Unsicherheiten zu kanalisieren und in Kunst zu verwandeln. „Ich hatte keine schöne Kindheit und die Underground-Musikszene war in den 80ern gewalttätig. Politische und gesellschaftliche Unzulänglichkeiten, das Nichtwissen, wo man hingehört und Zukunftsängste - alles spielte da rein.“ Hellions angepisste, stets über den Rand der sogenannten „Normalität“ hinausgehende Gesangsstimme ist genauso markant wie der ursprüngliche Metalcore-Sound seiner Band. „Es ging darum, den Urschrei rauszulassen. Pure Barbarei, Höhlenmenschen-Geräusche. Manchmal fühlt sich eine Gesangsaufnahme oder ein Konzert für mich wie ein Exorzismus an. Ich befreie mich von Sorgen und Problemen, bin ganz bei mir.“ Bei den eigenen Idolen greift Hellion weit zurück und beginnt bei Blues-Urvater Robert Johnson. „Er ist der erste Heavy-Metal-Musiker überhaupt, weil er seine Seele dem Teufel verkaufte. Ich liebe alten Blues. Er ist ursprünglich, unverfälscht und ehrlich. Es geht nicht um ein Genre, sondern um das richtige Gefühl – wie beim Hardcore. Blues war früher das Äquivalent zu Black Metal. Er war von der Masse verachtet und argwöhnisch beäugt.“

Auf der Suche nach der Dunkelheit
Freilich ändern sich die Zeiten. Brachte Elvis Presleys Hüftschwung die Frauen in den 50ern an den Rand der Ohnmacht, wirken Videoaufnahmen von ihm heute so harmlos, als würde man einen durchschnittlichen Disney-Charakter beobachten. „In der Schule hatte ich eine KISS-Figur von Gene Simmons gesehen. Ich dachte, wer so aussieht, muss die schrecklichste, dämonischste, abartigste Musik der Welt machen. Dann lief plötzlich einer ihrer Disco-Tracks im Radio und ich kam mir fast betrogen vor. Nicht alles, was wild aussieht, ist auch wild. Dasselbe gilt für die Harmlosigkeit.“ So wie Hellion sich keine romantischen Komödien mit Tom Hanks und Julia Roberts ansieht, interessiert ihn auch nicht die herkömmliche Schönheit von Musik. „Ich habe in meinem Leben immer nach der Dunkelheit gesucht. Bei Comics, in Romanen, bei Filmen und erst recht in der Musik.“ Integrity vermischten früh Themen wie Satanismus und den Straight-Edge-Lifestyle, was es davor noch nicht gab. Für Hellion ist das auch ein Teil seiner Jugend. „Das war in unserem Alter ganz normal. Ich trinke selbst zwar nicht, aber mir ist heute völlig egal, was in welchem Kühlschrank steht – als Jugendlicher bist du viel mehr auf Krawall gepolt.“

Nicht nur durch Hellions viehisch-wildes Bühnengebaren samt den Stimm-Urlauten galt er als eigensinnig. Er war bekannt für unkontrolliertes, erratisches Verhalten und den Hang zur spontanen Explosion. „Heute bin ich bei weitem nicht mehr so unberechenbar. Ich gebe auf der Bühne alles und bereite mich den ganzen nächsten Tag darauf vor, am Abend dann noch besser zu sein. Das ist alles, worauf auf Tour mein Fokus liegt.“ Einen Mitgrund für seine Wut von damals sieht er im ehemaligen Label Victory Records, das sich nicht nur die Rechte auf den Backkatalog sicherte, sondern laut Dwid auch keinen müden Cent in die Musiker steckte. „Wir wurden immer bekannter, spielten unzählige Konzerte und dann musste ich daheim erst wieder auf der Couch in der Garage meines Kumpels schlafen. Irgendwann war mir klar, hier kann etwas ganz und gar nicht stimmen. Aber sei es drum – ich war oft ein tyrannisches Arschloch, das will ich gar nicht abstreiten.“

Kein Romantisieren des Alltags
Mit vielen Artikeln und Interviews von früher ist Hellion heute nicht mehr glücklich. Teilweise sieht er die Schuld im medialen Verdrehen von Inhalten und dem Schlagzeilenjournalismus, teilweise ist er sich seiner eigenen Verhaltensmuster aus der Vergangenheit bewusst. „Ich finde es immer lustig, wenn all die Musiker ihre großen Autobiografien schreiben, obwohl sie noch nicht einmal im Pensionsalter angekommen sind. Was ist der Inhalt meines Lebens? Ich sitze auf Tour 23 Stunden pro Tag in dreckigen Backstageräumen oder im Van herum, um darauf zu warten, eine Stunde auf der Bühne alles zu geben. Das ist nicht besonders spannend und nicht besonders aufregend. Ich lebe in Belgien rural am Land, habe keine Kinder und der nächste Nachbar ist einige Minuten mit dem Auto entfernt. Ich habe schon als Kind gelernt, mich selbst zu beschäftigen und mir Dinge beizubringen.“ In Europa fühlt er sich wohl, den Kontinent hat er durch die vielen und frühen Integrity-Touren schon vor seinem Umzug vor knapp 25 Jahren gut kennengelernt.

„In Amerika hast du ein anderes Schulsystem, viele Dinge werden dir ganz anders nähergebracht. Als ich erstmals nach Europa zog, hatte ich eine sehr arrogante Einstellung diesem Kontinent gegenüber. Fast wie ein Comic. Als wäre ich Bruce Willis, der sich ein Superheldenkostüm anzieht und mit einer US-Flagge im Schlepptau die Europäer rettet.“ Heute fühlt er sich hier pudelwohl, kommt – nicht zuletzt durch seine Band – pro Jahr etwa achtmal in die USA. „Meine Familie und viele gute alte Freunde leben dort. Es wird immer ein Teil Heimat für mich bleiben.“ Die Bodenständigkeit hat auch musikalisch Einzug gehalten. „Die meisten überlegen sich bei einer Bandgründung, wie sie möglichst viele Platten verkaufen und Geld damit lukrieren können. Wenn die Musik nicht gut und authentisch ist, hilft dir das auch nichts.“ Für Hellion ist nach kurzem Nachdenken „Jagged Visions Of True Destiny“ vom Album „Humanity Is The Devil“ (1996) das wichtigste Lied seiner Karriere. „Bekannter ist aber ,Vocal Test‘ vom selben Album. Diesen Urschrei kennt wahrscheinlich jeder, der sich irgendwann mit Hardcore oder Metalcore befasst hat.“

Live in der Arena Wien
In den letzten Jahren hat sich Hellion damit befasst, die Rechte an den alten Alben zurückzugewinnen, das letzte richtige Studioalbum „Howling, For The Nightmare Shall Consume“ hat auch schon fast neun Jahre am Buckel. Live setzt man aber ohnehin auf die Klassiker aus den 90er- und frühen 2000er-Jahren, wo Integrity das Metalcore-Genre ohne zu viel Melodieseligkeit und Clean Vocals nachhaltig prägten. „Ein neues Album zu machen, kostet viel Zeit und Kraft. Außerdem tendiere ich dazu, die Dinge zu überdenken und schwer zu einem Ende zu kommen. Es ist ein ständiger Kampf mit mir und gegen mich, das macht es nicht leichter. Mit der ungarischen Combo Fleshprison als Support kommen Integrity nun am 15. Dezember für eine ganz und gar nicht besinnliche Vorweihnachtsshow in die Wiener Arena. Unter www.oeticket.com gibt es – wohl wie auch an der Abendkassa – noch ein paar Karten für das Highlight, das man keinesfalls verpassen sollte.

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