Nach dem gelungenen Spätwerk „American Utopia“ hätte nicht jeder viel Geld gesetzt, um von Talking Heads-Legende David Byrne wirklich noch ein weiteres Album zu erwarten. „Who Is The Sky?“ wirkt auf den ersten Hördurchgang nicht so zugänglich, steuert mit alten Ideen aber neue Ufer an.
Ältere Semester kennen die Situation wahrscheinlich: Irgendwann ist man an einem Punkt angelangt, wo man mit sich und der Welt so im Reinen ist, dass man sich kaum noch um die Meinungen von außen schert und einfach das macht, was einem in den Sinn kommt. David Byrne praktiziert das gerade privat und beruflich. Einerseits ist er kurz davor, seine 18 Jahre jüngere Partnerin, Unternehmerin Mala Gaonkar, zu heiraten. Andererseits veröffentlicht er dieser Tage mit „Who Is The Sky?“ sein erstes Album seit sieben Jahren und zeigt sich darauf dermaßen bewusst gegen alle Trends und gängigen Mechanismen des modernen Musikbusiness gebürstet, dass man den mittlerweile 73-jährigen Querkopf am liebsten umarmen und vor unschuldiger Freude abbusseln möchte.
Vorsichtiges Herantasten
Der New Yorker Avantgardist zeigt sich auf den zwölf Songs zumeist fröhlich und beschwingt, lässt die lebensbejahenden Dur-Akkorde aufheulen und vertraut dabei auf die kompetente Zärtlichkeit des Ghost Train Orchestra. Das 15-köpfige Kollektiv lernte Byrne 2023 bei einer Tribute-Show für den berühmten New Yorker Komponisten Moondog kennen und schnell lieben. Nachdem er im Jahr darauf noch ein Konzert besucht hatte, setzte er sich mit deren Kopf Brian Carpenter in Verbindung und fragte nonchalant, ob sie als Studioband zur Verfügung stehen würden. Für Carpenter, der Byrne und seine kultige New-Wave-Band Talking Heads fast schon kultisch verehrt, ging damit ein Traum in Erfüllung und schnell war klar, dass sich hier auf jeden Fall was basteln ließ.
Byrne verbuchte mit „American Utopia“ 2018 den kommerziell größten Erfolg seiner Solokarriere. Das mit dramatischen Theaterelementen und visuellen Effekten verstärkte Album kehrte nicht nur den Positivismus in einer Zeit der Dunkelheit in den Vordergrund, es kletterte rundum auf beachtliche Chart-Plätze und zeigte, dass die kreative Müdigkeit beim gebürtigen Schotten noch nicht einmal im Ansatz zu erkennen war. Rund 1500 Fans wurden auch in Wien Augen- und Ohrenzeugen, als Byrne im Zuge der damaligen Tour im MuseumsQuartier seinen ersten Österreich-Auftritt nach neun Jahren Abwesenheit verbuchte. Coronabedingt tourte er schließlich bis tief in das Jahr 2023 hinein über die Welt und begann, Vielarbeiter, der er nun einmal ist, bereits in der Live-Endphase neue Ideen und Gedanken zu notieren.
Den Alltag avantgardisieren
„Who Is The Sky?“ ist nicht nur ein gegen den Strom und Zeitgeist gebürstetes Fröhlichkeits-Popalbum, sondern auch eine kunterbunte Ansammlung an Byrnescher Ironie, schrägen Humors und Einblicken in sein vielseitiges Privatleben. Schon die erste Single-Auskoppelung „Everybody Laughs“ ist eine lockere Bestandsaufnahme über die Gleichheit aller Menschen und ihrer Probleme im Leben. In „She Explains Things To Me“ nimmt er die Kommunikationsschwierigkeiten im Humorsegment zwischen Paaren auf die Schaufel, „A Door Called No“ öffnet sich, nachdem sich der darin befindliche Protagonist von einer besseren Seite zeigt, in „I Met A Buddha At A Downtown Party“ macht sich der Künstler über die Hors d‘oeuvre-Kultur in der Weltmetropole lustig und „Moisturizing Thing“ ist tatsächlich eine Hymne für die natürliche Verjüngung durch eine ausgiebige Feuchtpflegekur fürs Gesicht.
Natürlich kann man Byrne im gesetzten Alter eine gewisse Art der humorigen Infantilität nicht abschreiben, aber der sympathische Radfahrer und Vollblutmusiker macht das samt dem groß aufspielenden Orchester mit so viel Liebe zu Rhythmus, Detailreichtum und der Musik an sich, dass man ihm auch in den durchaus vorkommenden seichten Momenten niemals böse sein kann. Als Produzent hat er den angesagten Kid Harpoon an Bord geholt, den er – Klischee olé - ausgerechnet auf einer klassischen New Yorker Partei kennen- und schätzen gelernt hat. Über den kultigen Vollblutmusiker hat Kid Harpoon nur Gutes zu sagen: „Er begreift die Absurdität des Ganzen, versteht den Witz. Und all diese persönlichen Beobachtungen sind sein Blick darauf.“ Diese Art von anarchistisch-schrägem Spaß schätzen nicht nur Byrnes langjährige Fans. Mit Gästen wie Hayley Williams (Paramore), seiner alten Freundin St. Vincent und Tom Skinner von The Smile greift er auch personell in die Vollen.
Juveniles Alterswerk
Musikalisch bekommt man auf „Who Is The Sky?“ eine kurzweilige Vielseitigkeit angeboten, die sich von lateinamerikanischen Rhythmen über getragenen Orchester-Passagen bis hin zu gemütlichen Art-Pop-Referenzen ausdehnt. Byrnes neuntes Soloalbum wirkt ein bisschen wie ein verspätet veröffentlichtes Soloalbum für die kunstsinnige Bourgeoisie, die sich nicht einfach mit dem Freibad zufriedengibt, sondern der Hitze lieber bei einem fancy Dachterrassengetränk vor der nächtlichen Privatführung im Metropolitan Museum Of Art trotzt. Es ist ein mildes Alterswerk, das aber eine erstaunlich frische Juvenilität an den Tag legt und uns tiefe Einblicke in das ganz und gar nicht naive, aber oft naiv wirkende Alltagsleben einer der größten lebenden Popkünstler der Geschichte vermittelt. Wer sich von „Who Is The Sky?“ tragen lässt, versteht auch, wie vor 42 Jahren der Pop-Evergreen „Burning Down The House“ entstehen konnte. Eine Europatour von David Byrne folgt 2026 – ohne Österreich-Termin.
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