Buch-Rezension

Jennifer Weist: Viel Seele & noch mehr Striptease

Musik
18.08.2025 09:00

In ihrer Autobiografie „Nackt“ (Rowohlt Verlag) legt Jennifer-Rostock-Frontfrau Jennifer Weist ihr Leben tatsächlich ungefiltert und offen auf den Tisch, um sich damit selbst zu sezieren und sich sezieren zu lassen. Ernsthafte Kritik an Kapital und Patriarchat vermischen sich dabei mit Groschenroman-Porno – ein ambivalentes Vergnügen.

kmm

Wer sich über die letzten zehn bis 15 Jahre in der deutschen Pop- und Rockwelt bewegt hat, weiß, dass Jennifer Weist zu den lautesten Genossinnen ihrer Zunft gehört. Die Frontfrau der im deutschsprachigen Raum immens erfolgreichen und seit geraumer Zeit pausierenden Jennifer Rostock schwingt auf ihrem Instagram-Account und Konzerten gerne die Moralkeule, scheut nicht davor zurück, in ihren Statements explizite Vulgarität zu verwenden und nimmt sich zu keinem Thema ein Blatt vor den Mund. Diese Art der überbordenden Selbstdarstellung war Weist aber nicht immer in die Wiege gelegt, denn die Kindheit und Jugend in der von ihr lange verhassten Heimat Mecklenburg-Vorpommern war geprägt von Drogen, Sex und Orientierungslosigkeit, wie sie auf den 416 Seiten ihrer Biografie „Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ (Rowohlt Verlag) immer wieder unzweideutig und klar vermittelt.

Aufarbeitung von Traumata
Das Buch hätte eigentlich schon gut drei Jahre früher alternierend zu ihrem unter dem Namen Yaenniver veröffentlichten Solodebüt „Nackt“ erscheinen sollen, mit dem ungeschönten Seelenstriptease war es dann aber doch nicht so leicht, wie sich die heute 38-Jährige das am Anfang selbst vorgestellt hat. Wer Weist kennt, der weiß, dass hinter der lauten und offensiven Fassade viel Verunsicherung und nicht aufgearbeitete Traumata stecken, die hier zuweilen klar und deutlich skizziert werden. Die 13 Kapitel gliedern sich so, wie die Songs auf ihrem Album und lassen in ihrer inhaltlichen Klarheit nicht mehr viel Raum für Fantasie offen. Der Inhalt beginnt in Zinnowitz auf Usedom. Man wird Zeuge, wie der Vater die Mutter mit deren besten Freundin betrügt, sich den Unterhaltszahlungen verweigert und die weibliche Flanke der Familie Weist fortan allein über die Runden kommen muss.

Im Song und dem Buchkapitel „Seebrücke“ folgt dann recht früh der intensivste Teil des Werkes – es wird eine Vergewaltigung im Kindesalter angedeutet. Darauf folgen Unsicherheit, Ohnmacht und die Angst davor, dass einem nicht geglaubt und man mit dieser bleischweren Bürde alleingelassen wird. Weist entwickelt sich in ihrer Adoleszenz zu einer optisch schrillen Person, die in den späten 90er- und frühen 2000er-Jahren als Teenager eben das macht, was man auch im ruralen Österreich machte: Dorfdisco, viel freie Liebe, noch mehr Alkohol und ein Joint nach dem anderen. Den Themen Sex und Drogen widmet die freizügige Künstlerin seitenweise Raum, sodass man sich zuweilen wie in einem schrottigen Hardcore-Porno fühlt. Weist erzählt nicht nur von ihrem Leben als polyamouröse Person, sondern entführt den Leser in detailliert ausgeschmückte Sexszenen und Orgien im Groschenroman-Stil. Dazwischen werden diverse illegale Berauschungsmittel glorifiziert, bei denen der mahnend gehobene Zeigefinger, aber bitteschön doch davon fernzubleiben, lächerlich wirkt.

Vom Egotrip zum Rundumschlag
Wer sich bei „Nackt“ tiefere Einblicke in Weists Erfolgskarriere mit Jennifer Rostock oder hintergründige Blicke ins Musikbusiness erwartet, wird indes enttäuscht. Thematisiert wird in erster Linie nur die Bandgründung und der überbordende Alkoholismus, der die Combo jahrelang auf Tour durch die Gegend trägt, nicht aber Motivationen, Beweggründe und Insights zum Songwriting, dem fulminanten Chart-Aufstieg der Band oder Details zur Chemie unter den einzelnen Mitgliedern. Das Buch ist genau jener Egotrip, den die Künstlerin auch in allen anderen Sparten ihrer öffentlichen Zurschaustellung zum Besten gibt. Mit Fortdauer der Lektüre kippt die Stimmung von der persönlichen Seelenschau hin zu einem (zuweilen berechtigten) Rundumschlag gegen das Patriarchat und den Kapitalismus, aus dem die Künstlerin aber auch selbst so einige Karrierevorteile herauszieht.

Sehr interessant sind auch die Einblicke in die geografische Diaspora Ostdeutschlands und den dort grassierenden Rechtsextremismus, den Weist mit zunehmendem Alter immer vehementer bekämpft. Nach der Veröffentlichung eines AfD-kritischen Songs wird sie mit dem Umbringen bedroht und muss in Berlin gar umziehen. Weist inszeniert sich als Kämpferin und Person, die sich von nichts und niemanden unterkriegen lässt. Die vor allem im letzten Drittel des Buches offen zur Schau gestellte Lernbereitschaft und den Willen, sich ernsthaft und offen mit Themenkomplexen der modernen Gesellschaft auseinanderzusetzen, sind das Resultat vieler innerer Reflexionen. Ein ganzes Kapitel widmet sie etwa ihrem wirtschaftlichen Bauchfleck, mit dem Lebenstraum einer Modekollektion und jenen Charaktereigenschaften an sich selbst, die sie als fehlerhaft und verbesserungswürdig sieht. Das ist nach einem ganzen Wulst an effekthascherischen und sprachlich oft holprigen Lebenskapitelrückschauen löblich und versöhnlich.

Offensive Vorbildwirkung
Wenn man über die offensive Selbstdarstellung der Künstlerin hinausblickt, ist „Nackt“ ein schockierendes Manifest über die patriarchalen Zustände im privilegierten Mitteleuropa – weit über das Unterhaltungsgeschäft hinaus. Weists steter Drang in die Öffentlichkeit ist schlussendlich ein Resultat daraus, dass man sie als Frau viel zu oft belächelt hat. Ihr mit zunehmendem Alter stärker werdender Kampf für Frauen- und FLINTA*-Rechte und Gleichberechtigung in allen Bereichen ist die Folge aus mentaler Unterdrückung, Missbrauch und der regelmäßig verursachten Erfahrung, in vielen Bereichen des Lebens schlichtweg nicht ernstgenommen zu werden. Die Sprache und Art, in der sich Weist inszeniert, mag für manche verstörend und übertrieben wirken, auf andere aber auch eine Vorbildwirkung haben, sich selbst aus Momenten der alltäglichen Unterdrückung zu befreien. „Nackt“ und der Mensch Weist an sich haben ihre guten und nervigen Seiten – so wie alles im Leben. Wenn man das akzeptiert und möglichst vorurteilsfrei ans Lesen geht, kann man aber auch über das zuweilen platte Schreibniveau und unnötig aufgeblähte Subdetails hinwegsehen.

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