Am 4. Juli startet im Principality Stadium von Cardiff das Rock‘n‘Roll-Comeback des Jahrhunderts – Oasis werden dort ihre erste Show seit ihrem unrühmlichen Ende vor 16 Jahren spielen. In „Gallagher – Fall und Aufstieg von Oasis“ (Piper Verlag) wird die einzigartige Beziehung der rüpelhaftesten Brüder der Rock-Geschichte zur Einstimmung noch einmal detailliert zerpflückt.
Die Geschichte von der kommerziell wahrscheinlich größten Reunion der Musikgeschichte ist mittlerweile hinlänglich auserzählt. Ende August 2024 legten Oasis die Karten für ihre Konzerte in Großbritannien und später noch Nord- und Südamerika aus und das G’riss um die Tickets hat alles bisher Dagewesene lächerlich gemacht. Millionen von Fans schauten durch die Finger, während neuartige Termini wie „dynamische Preisgestaltung“ aussichtsreiche Kandidaten für den „Unbegriff des Jahres“ wurden. Je näher das große Comeback mit der Eröffnungsshow am 4. Juli in Cardiff rückt, umso verrückter dreht sich die Marketingspirale. Jüngst etwa mit einer Adidas-Oasis-Kleidungsedition, die teilweise nach Minuten restlos ausverkauft war und wo man sich ursprünglich 50 Pfund teure Shirts nun auf Ebay um 500 Pfund gönnen kann.
Notwendige Kurs-Korrektur
Ob die beiden ewigen Streithanseln Noel und Liam Gallagher nach 16 Jahren Trennung reif genug sind, um dieses bombastische Spektakel auch wirklich durchzuziehen, wird man sehen, denn eines ist fix: Geld oder Erwartungshaltungen von außen waren für die beiden noch nie eine ausreichende Triebfeder, um Vernunft vor Emotionen zu stellen. Während der Britpop 30 Jahre nach seinem Peak also wieder floriert (auch Blur und Pulp waren und sind mit neuen Alben und Comeback-Shows mehr als verhaltensauffällig), graben Zeitzeugen und einstige Insider von damals all ihre Archive durch und versuchen mit jedem Schnipsel, jeder Erinnerung und jeder Form von Rückbesinnung am großen Kommerz-Kuchen mitzunaschen. Autor PJ Harrison ist so einer, der in der ersten Phase der Oasis-Karriere eine Zeit lang live dabei war und alle möglichen Skandale und Skandälchen aus erster Hand mitbekommen habe. So musste er sein schon länger geplantes Buch über die Gallagher-Brüder, wie er im Vorwort erzählt, durch die Ankündigung der Reunion natürlich anders gestalten und entschied sich für eine geschichtliche Rückschau.
Vor allem britische und auch gesamteuropäische Oasis-Fans werden auf den 320 Seiten (Piper Verlag) nicht viel finden, was ihnen nicht schon bekannt ist oder sie sich nicht aus Interviews und Eigenrecherchen der letzten drei Dekaden selbst an Wissen aufgeladen hätten. Amüsant ist die Rückschau auf dieses ganz und gar einzigartige Brüderpaar aus der tiefsten Arbeiterschicht Manchesters, aber auch aufgewärmt noch allemal. Die Kapitel hat Harrison nicht chronologisch angeordnet, was dem Lesefluss schon einmal gut zu Gesicht steht. Neben den üppig (aus)erzählten Oasis-Jahren von 1993 bis 2009 legt er aber auch großen Wert auf die letzten 16 Jahre, die schlussendlich zur Wiederkehr der größten aller Britpop-Bands führte. Die einzelnen Kapitel hängt der Autor dabei auf unterschiedliche Erzählperspektiven auf. Verschiedene Abschnitte werden mal aus der Sicht von Liam, dann aus der Sicht von Noel wiedergegeben. Daraus ergibt sich vor allem ein Panoptikum der unendlich vielen Unterschiedlichkeiten zwischen den so ungleichen Menschen, deren einziger Kitt ihre geliebte Mutter und die rustikale Herkunft zu sein scheinen.
Die Quintessenz beleuchtet
All die Vorkommnisse seit dem skandalösen Band-Ende am Rande eines Konzerts in Paris 2009 wurden ohnehin viel zu wenig beleuchtet, was „Gallagher“ dann doch zu einem sehr interessanten Buch macht. Von den eingangs erwähnten Insider-Geschichten weiß Harrison am Ende aber doch nicht viel zu berichten, dafür scheint er aus dem Kosmos der beiden Brüder zu lange absent zu sein. So werden die Solojahre anhand der jeweils veröffentlichten Alben abgehandelt, wobei versucht wird, die unterschiedlichen emotionalen Gemütszustände der beiden Musiker mit ihren jeweiligen Lebensphasen in Verbindung zu bringen. Die Quintessenz ist so klar wie bekannt: hier der in sich gekehrte, introvertierte, aber geniale Charakterkopf Noel. Dort der impulsive, alle Grenzen sprengende und charismatische Rüpel Liam. Neben diskografischen Details und Geschichte zu Produktionsprozessen werden die einst auf Twitter (heute X) ausgetragenen Kämpfe bis zum Erbrechen wiedergekäut.
Einen neuen Touch aus dem längst auserzählten Kosmos von Oasis zu finden, wäre wohl auch nicht möglich. Dafür tragen beide Raubeine ihr Herz und auch ihr Ego seit jeher zu stark auf der Zunge. Die Geschichte der Gallaghers ist aber immer noch eine wundervolle Rückschau auf eine Zeit, wo Promi-Fehden noch das schockierendste Nachrichtenthema des Tages waren und man sich nicht um den Weltfrieden, sondern nur um das Outfit für den nächsten Wochenend-Rave kümmern musste. Auch Harrison versteigt sich in seiner Retrospektive gerne in die Verklärung und verkündet speziell die 90er-Jahre als eine Ära des unumstößlichen Glücks – womöglich ist das gar nicht so falsch, aber dann in der eigenen Euphorie über sein Werk doch ein bisschen sehr dick aufgetragen. Über viele Jahre hinweg richten die beiden Musiker sich gegenseitig, aber auch einzelnen Familienmitgliedern kompromisslos Grauslichkeiten aus und treiben jedem Verhaltens-Benimmpapst die Schweißperlen auf die Stirn.
Die letzte Rock’n’Roll-Geschichte
Mitunter deshalb funktioniert die Geschichte der beiden Gallagher-Brüder aber unverändert gut. In einer Zeit der politischen Korrektheit, woker Bewegungen und von Cancel Culture wirkt vor allem Sänger Liam wie ein unerwünschtes Relikt aus längst vergessenen Tagen. Er legt sich offensiv mit seinen Fans an, ging lange Zeit keiner Prügelei aus dem Weg und ist auch heute, in seinen 50ern und deutlich geläutert, noch immer der Erste, der, wenn es aus seiner Sicht sein muss, mit Schimpfwörtern attackiert, die nicht einmal die Abermillionen verdienter Pfund Sterling aus seinem Gossen-Gestus nehmen konnten. Die Geschichte von Oasis ist die letzte, die sich mit dem unverblümten Rock’n’Roll-Gestus von damals erzählen lässt und die einen in mehrfacher Hinsicht ausgeprägten Testosteron-Überschuss erkennen lässt, wie er bei einer jüngeren Band heute gar nicht mehr salonfähig wäre. „Gallagher – Fall und Aufstieg von Oasis“ ist eine kurzweilige Angelegenheit, die Die-Hard-Fans aber nicht aus den Schuhen hauen wird. Als Einstimmung für jene, die ein paar der begehrten Reunion-Tickets erhalten haben, dient das kleine Kompendium aber allemal.
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