Sieben Jahre nach ihrem letzten Studioalbum und einer veritablen Sinnkrise kehrt PJ Harvey mit ihrem neuen Album „I Inside The Old Year Dying“ ins Rampenlicht zurück. Das Quasi-Comeback fällt experimentell, introspektiv und vor allem zauberhabt mysteriös aus.
Als PJ Harvey 2016 ihr bislang letztes Album veröffentlichte, schien die Welt noch in Ordnung. Donald Trump war noch nicht im Weißen Haus, der Brexit noch ein Gespenst der Zukunft, von einer Corona-Pandemie, dem Angriffskrieg auf die Ukraine oder Benzinpreisen jenseits von Gut und Böse ganz zu schweigen. Für die Künstlerin selbst war dieses Jahr der Beginn eines kreativ-konditionellen Untergangs. Für ihr ambitioniertes Album „The Hope Six Demolition Project“ besuchte sie mit dem Fotografen und Filmemacher Seamus Murphy Afghanistan und den Kosovo. Erstmals in ihrer an Highlights nicht gerade armen Karriere kam sie auf Platz eins der britischen Albumcharts und tourte im Folgejahr wie eine Verrückte. Zählt man das 2011er-Werk „Let England Shake“ dazu, hat sich Harvey fast ein Jahr lang mit Europa- und Weltpolitik befasst und dabei den Anschluss an sich selbst verloren.
Routinen des Alltags
„Ich war mir nicht wirklich sicher, was ich tun sollte“, wird sie im Pressetext zu ihrem brandneuen Album „I Inside The Old Year Dying“, dem ersten seit sieben Jahren und dem zehnten insgesamt, zitiert, „sollte ich weiter Alben schreiben und auf Tour gehen oder in meinem Leben eine notwendige Veränderung einleiten?“ Ihre große, bereits drei Dekaden andauernde Liebe zur Musik bekam plötzlich Risse. Obwohl Harvey, die 1992 mit „Dry“ als Grunge-Ikone startete und sich über die Jahre zu einer Art Dunkelwald-Kate-Bush entwickelte, sich mit jedem Lied und jedem Album stets aufs Neue neu erfand, stand sie plötzlich vor einer Wand. Sie bemerkte, dass die Routinen des Alltags auch in einem vielseitigen und kreativen Beruf unumstößlich sind. Ganz kurz flackerte der Gedanke auf, die Musik endgültig ad acta zu legen.
Zwei einschneidende Erlebnisse haben Harvey nach längerer Schaffenspause schlussendlich doch wieder in den Schoß ihrer großen Leidenschaft zurückgeführt. Bei einem Treffen in Chicago erklärte ihr Filmregisseur Steve McQueen, dass sie nicht in Alben und Songs, sondern in Wörtern, Bildern und Klängen denken sollte, um wieder zur Kreativität zurückzugelangen. Angestachelt von dieser neuen Betrachtungsweise nahm sie zu Hause wieder die Gitarre in die Hand oder setzte sich ans Klavier, um ihre eigenen Lieblingssongs nachzuspielen. The Stranglers, The Mamas And The Papas und Nina Simone. Beim Louis-Armstrong-Evergreen „What A Wonderful World“ kamen ihr die Tränen - und damit einhergehend die Erkenntnis, dass die Musik noch immer ein gewichtiger Teil ihrer Persönlichkeit ist und sie emotional in alle Richtungen aufrütteln kann.
Kampf für das Unbekannte
Plötzlich flossen die Ideen und die Songs für das neue Album waren innerhalb von drei Wochen geschrieben. Der textliche Ansatz war dafür diametral anders als bei den Vorgängerwerken. Nach den zwei geopolitischen Manifesten rückte Harvey für „I Inside The Old Year Dying“ tief in ihre innere Echokammer. Für einen Seelenstriptease bleiben ihre Texte zu luftig und ungreifbar, aber die zarte Melancholie, die durch den Großteil der Lieder wabert, vermischt sich wundervoll mit den intrinsischen Gedanken, die die 53-Jährige sehr kryptisch nach außen trägt. Im Opener „Prayer At The Gate“ etwa überrascht Harvey mit einer vokalen Zerbrechlichkeit und Höhe, die sie fühlbar vor neue Herausforderungen stellte. Der Grundvorsatz, jedes Mal neu und anders zu klingen, wird mit jedem abgeschlossenen Karrierekapitel schwieriger zu bewerkstelligen. Harvey kämpft aber nicht einzeln um das Unbekannte, sondern setzte auf das altbekannte Duo John Parish und Flood, das ihr mit Rat und Tat zur Seite stand.
„Ich habe das Gefühl, dass ich noch nie so gesungen habe, wie auf diesem Album“, erzählt Harvey begleitend zum Werk, „das liegt mitunter daran, dass ich Parish und Flood so sehr vertraue, dass ich mich von ihnen auch in unkomfortable Situationen leiten ließ. Jedes Mal, wenn es den Anschein machte, als würde ich mit der klassischen PJ-Harvey-Stimme singen, haben sie ihr Veto eingelegt und wir haben wieder von vorne begonnen.“ Diese bewusst gewählte Suche nach der Andersartigkeit und nach dem Unbekannten im wohlbekannten eigenen Körper ermöglichte erst die Einzigartigkeit der Kompositionen. Das zwischen den Doors und sanften Nirvana-Songs schlingernde „Seem An I“ erinnert noch am ehesten an die PJ Harvey der letzten Jahre, doch der grungige Titelsong, die abgespacten 70er-Vintage-Synthie- und Elektronik-Einlagen, die sich wie ein unsichtbarer Teppich unter den Rockinstrumenten ausbreiten, sorgen für eine besonders düstere, unikale Atmosphäre.
Biblische Adoleszenz
Wie in ihrem Gedichtband setzt Harvey auch in der Songumsetzung auf ihren Heimatdialekt aus Dorset, ihrem Geburts-, Sehnsuchts- und Wohnort im malerischen Südwesten Englands. Diese Zugangsweise verleiht den Songs eine zusätzliche mysteriöse Komponente, die auch von den Texten getragen wird. Immer wieder gibt es biblisch-religiöse Querverweise und Vogelgezwitscher. Es geht um Naturbelassenheit, Adoleszenz und eine luzide Sinnsuche. Von den eruptiven Garage-Rock-Momenten des Vorgängers sind noch nicht einmal Spurenelemente übriggeblieben, auf „I Inside The Old Year Dying“ stülpt Harvey ihre tiefsten Empfindungen an die Oberfläche und bleibt trotzdem feenhaft springend und ungreifbar. Würden sich die düsteren Wälder britischer Grafschaften in Musik ausdrücken, sie hätten hier ihre perfekte Intonation gefunden. Eine Schande, dass die Herbsttour der einzigartigen Künstlerin an Österreich vorbeizieht.
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