„Bleiben in Sackgasse“

Ukraine: Keine Hoffnung auf Friedensverhandlungen

Ausland
03.11.2022 20:01

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz sprach in Kiew mit Julia Timoschenko, der wohl bekanntesten Oppositionspolitikerin in dem vom Krieg zerrütteten Land - auch sie sieht derzeit keine Chance auf Frieden.

In der Ukraine herrscht praktisch seit Beginn des russischen Angriffs Ende Februar eine Art Kriegsrecht, und es besteht eine massive Zensur. Konkret bedeutet das auch massive Einschränkungen für politische Parteien, für die Opposition und die Medien. So wurden alle sogenannten oder tatsächlichen prorussischen Parteien und drei TV-Kanäle verboten. Doch auch die staatstragende ukrainische Opposition muss mit massiven Einschränkungen leben.

Dazu zählt, dass für das kommende Jahr auch die gesamte staatliche Parteienfinanzierung gestrichen werden soll. Zu den bekanntesten Oppositionspolitikerinnen zählt Julia Timoschenko, ein politisches Urgestein der Ukraine. Sie ist am Freitag bei einer Konferenz in Wien. In Kiew hat mit ihr bereits Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz gesprochen.

Vor Beginn des Interviews übergab Timoschenko im Namen ihrer Vaterlandspartei im Innenhof der Parteizentrale in Kiew ein geländegängiges Fahrzeug an die ukrainische Armee. Dieses Geschenk hat mehr als nur Symbolkraft, gleicht die Partei doch seit Kriegsbeginn eher einer Hilfsorganisation denn einer politischen Bewegung. „Seit dem ersten Kriegstag haben wir kinderreiche Familien, Kranke, krebskranke Kinder evakuiert, das haben wir im ganzen Land getan, aus den heißesten Orten“, erzählt die Frau mit dem markanten, geflochtenen Haarkranz.

„Darüber hinaus liefern wir Lebensmittel und Medikamente an Menschen, die isoliert sind. Wir statten fast alle Krankenhäuser der Ukraine mit der notwendigen Ausrüstung aus, weil es jetzt einen Zustrom Verwundeter, aber auch traumatisierter Menschen gibt, die unter sehr starkem Stress stehen.“

Alle TV-Anstalten gleichgeschaltet
Medien waren bei der Übergabe des Autos an die Streitkräfte nicht anwesend. De facto sind alle großen TV-Anstalten politisch gleichgeschaltet, und auch die in der Ukraine so wichtigen Telegram-Kanäle seien nicht wirklich pluralistisch, heißt es. „Einmal pro Woche habe ich mit Sondererlaubnis für 3 Minuten Zugang zum Fernsehen“, sagt Timoschenko. „Das gilt für fast alle Oppositionsabgeordneten, das gilt für alle Führer der Oppositionsparteien, und leider leidet die Meinungsfreiheit heute sehr.

Auch Telegram-Kanäle haben ihre Besitzer, und nur die Telegram-Kanäle entwickeln sich gut, die gut finanziert sind und die sich wirklich um die heutigen Machthaber sorgen. Deshalb gibt es in der Ukraine heute nur noch wenig Meinungsfreiheit, und leider gibt es auch nur wenig Parlamentarismus und Demokratie, vielleicht auch das eine Folge des Krieges.“

Auch das Parlament bietet der Opposition keine Bühne mehr, weil es auch hier massive Einschränkungen gibt, die alle mit dem Krieg begründet werden. Timoschenko: „Der Krieg hinterlässt definitiv Spuren. Heute arbeitet das Parlament nicht öffentlich, weil niemand ankündigt, wann das Parlament tagt, Massenmedien sind nicht zugelassen, weil man Angst vor einem Angriff auf das Parlament hat, sollte der Feind wissen, wann das Parlament tagt. Aber die Abgeordneten verabschieden wichtige Gesetze; dazu zählt demnächst der Haushalt der Ukraine für das nächste Jahr.

Das ist ein wichtiges Dokument, weil es die maximalen finanziellen Ressourcen für die Verteidigung des Landes vorsieht. Generell: Das Parlament arbeitet hart, doch wir können über Sitzungen nicht im Voraus informieren, wir können sie nicht öffentlich machen, und das hinterlässt sicherlich einen gewissen Eindruck von der Qualität des Parlamentarismus.“

Nach dem Sieg eine neue Verfassung
Gibt es Hoffnung auf eine Rückkehr zu klaren demokratischen Spielregeln? „Ich hoffe, dass wir nach unserem Sieg anstelle der Verfassung, die immer noch postsowjetisch ist, in der Lage sein werden, einen neuen Gesellschaftsvertrag in der Ukraine abzuschließen. Dieser Vertrag wird uns ein Regierungssystem geben, in dem eine klare Gewaltenteilung besteht, wo es eine Justiz und spezielle Strukturen gibt, die sich mit Korruptionsfällen befassen können - wo jeder Amtsträger kontrolliert wird und für jede seiner Handlungen verantwortlich ist.“

Doch derzeit ist ein Kriegsende nicht in Sicht. Und auch die Vorsitzende der Vaterlandspartei sieht keine Grundlage für Verhandlungen mit Russland, das Forderungen erhebe, die die Ukraine einfach nicht annehmen könne, so Timoschenko. „Zu ihren Bedingungen zählt, dass die besetzten Gebiete zur Russischen Föderation gehören müssen, zweitens eine erhebliche Reduzierung der ukrainischen Armee unter den Garantien der Russischen Föderation, die unsere Unverletzlichkeit der Grenzen und unser friedliches Leben garantiert.“

Weg in den nächsten Krieg?
Können die Ukrainer heute solche Bedingungen akzeptieren? Timoschenko: „Einseitig abrüsten, an die Garantien der Russischen Föderation glauben und die bereits besetzten Gebiete abtreten? Nun, die dritte Bedingung war, dass wir der NATO nicht beitreten und wieder allein und ungeschützt bleiben.

Daher lautet die Frage der Ukrainer: ,Wenn man unsere Armee entwaffnet, den Beitritt zu einem wirksamen Sicherheitssystem verhindert, uns die bereits besetzten Gebiete wegnimmt, ist dann ein derartiger sogenannter ,Friedensvertrag‘ nicht der Weg zum nächsten Krieg?‘“

Außerdem: „Wenn uns die Russen sagen, setzen wir uns zu Friedensgesprächen zusammen, aber wir sagen Ihnen im Voraus, dass die Gebiete, die wir Russland angegliedert haben, nicht mehr Ihnen gehören, was sind das dann für Ausgangspositionen? Niemand auf der Welt nimmt den Wunsch von Wladimir Putin und Russland, zu verhandeln, ernst, und deshalb bleiben wir in einer Sackgasse; uns und unseren Verbündeten bleibt nur, für unser Land zu kämpfen, unser Land zu verteidigen und zu gewinnen.“

Somit werden wohl weiter die Waffen sprechen, solange entweder auf dem Schlachtfeld eine Vorentscheidung im Abnützungskrieg fällt oder Russland und die USA eine grundlegende Einigung erzielen, deren geopolitischer Konflikt derzeit auf ukrainischem Boden ausgetragen wird.

 Kronen Zeitung
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