Tatjana Kiel

„Was wir brauchen, sind laute Menschen!“

Vorarlberg
09.05.2022 10:46

Am 24. Februar überfiel Russland die Ukraine - ein Tag, der unser aller Leben prägt und den Krieg nach Europa brachte. Auch für Tatjana Kiel, die früher die Boxkämpfe der Klitschkos plante, blieb kein Stein auf dem anderen.

Tatjana Kiel ist CEO von „Klitschko Ventures“ und langjährige Geschäftspartnerin von Dr. Wladimir Klitschko. Sie steht in ständigem Austausch mit den Brüdern, die mit aller Vehemenz für ihre Heimat und die Demokratie kämpfen. Gemeinsam riefen sie die Initiative „#WeAreAllUkrainians“ ins Leben, die Kiel von Deutschland aus organisiert. Das Leben von Tatjana Kiel hat sich seither komplett auf den Kopf gestellt, es gibt kaum eine Minute, in der sie durchatmen könnte.

Krone: Frau Kiel, was hat der 24. Februar für Sie verändert?
Tatjana Kiel: Der 24. Februar war bei mir gar nicht so ausschlaggebend. Es begann nämlich schon vier Wochen zuvor, als Wladimir plötzlich alles durchstrukturiert hat und meinte: „Da wird etwas passieren, ihr unterschätzt das. Halte dich bereit.“ Ich dachte mir: „Wovon redet er?“ Aber er war ganz klar in seinen Absichten - so wie früher vor schweren Boxkämpfen. Die Vehemenz von Putins Angriff hat mich trotzdem total aus der Bahn geworfen. Dann habe ich das angewendet, was ich immer schon gut konnte - die Reaktion. Als viele noch meinten, es handle sich nur um eine kurze Machtdemonstration, hörte ich auf mein Bauchgefühl, rief ihn an und fragte: „Was braucht ihr?“ Seitdem gibt er mir den Bedarf durch und ich versuche das alles zu organisieren.

Was waren die ersten Schritte?
Wladimir meinte: „Es wird schlimm, seid laut!“ Also habe ich am nächsten Tag eine Demonstration angemeldet, die dann am Tag darauf statt fand. Ich habe dort drei Stunden lang einfach nur erzählt. Wenn Menschen wie die Klitschko-Brüder, die sich ja problemlos ins Ausland hätten retten können, in ihrer Heimat bleiben, um für Demokratie und Freiheit zu kämpfen, dann zeigt da auch, wie viel auf dem Spiel steht - nämlich letztlich auch unsere Demokratie und Freiheit. Ich habe auf Kampfmodus ungestellt und wenige Emotionen zugelassen. Auch wenn mich die Einzelschicksale sehr berühren, habe ich versucht, diese auszublenden und nach skalierbaren Lösungen gesucht: Ich will Dinge in einen Prozess gießen, der durchdacht ist und duplizierbar, damit er von jedem da draußen übernommen werden kann, der ebenfalls helfen möchte.

Was hilft den Menschen in der Ukraine derzeit am meisten?
Was wir am meisten brauchen, sind laute Menschen. Ich bin per se gegen Waffen, aber wenn die Ukrainer keine Waffen bekommen, werden sie einfach abgeschlachtet. Da muss ich doch nicht lange überlegen. Aber ich bin trotzdem gegen die Waffenindustrie. Es geht darum, diese Diskrepanz gemeinsam am Esstisch zu diskutieren. Es sollte wieder normal sein, dass auch einmal laut gesprochen wird. Wir müssen uns darüber austauschen, was richtig und falsch ist - besonders mit den Kindern.

Sie haben eine 9-jährige Tochter. Wie erklärt man einem Kind den Krieg?
Ich hab von Anfang an nicht über den Krieg, sondern über den Frieden gesprochen. Das erzählt, was mir wichtig ist und was wir im schlimmsten Fall verlieren könnten. Es geht nicht darum, Kindern Angst zu machen, sondern sich für das Richtige einzusetzen. Angst ist grundsätzlich wichtig, damit man sich zu schützen lernt. Einmal habe ich darüber geredet, was Freiheit und Demokratie bedeuten. Meine Tochter meinte nur: „Ganz ehrlich Mama, aber Du entscheidest, was ich darf und was nicht.“ Das sind dann wieder Momente, in welchen das Lachen zurückkommt. Kinder sind sehr feinfühlig - sie spüren, dass es grundlegend falsch ist, was Putin tut. Kinder unterhalten sich darüber und dieser Austausch ist enorm wichtig.

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Das Allerschlimmste sind die vielen Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Die Mädchen wollen unter keinen Umständen nach Polen, weil sie dort keine Abtreibungen erlauben.

Tatjana Kiel

Sie setzen sich auch sehr für das Schicksal der Frauen vor Ort ein.
Die Frauen sind so überfordert, dass sie gerne als Opfer dargestellt werden. Dabei sind sie total stark und mutig, sie bekommen sogar ihre Babys in diesen Schächten, wo sie sich verstecken müssen. Das Allerschlimmste sind die vielen Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Die Mädchen wollen unter keinen Umständen nach Polen, weil sie dort keine Abtreibungen erlauben. Also versuchen sie, illegal Abtreibungspillen zu besorgen - daran könnten sie allerdings sterben. Wir versuchen, diese Pillen über Krankenhäuser zu bekommen, aber die Scham ist so groß, es ist wirklich dramatisch.

Sie sind jeden Tag mit dem Krieg konfrontiert und sehen viel Leid. Wie meistern Sie diese emotionale Situation?
Ich muss sagen, dass der Sport auch immer emotional war. Ich kenne das also. Bei jedem Boxkampf - ich habe mehr als 50 organisiert - wird einem bewusst, dass dieser Sport auch grenzwertig sein kann. Das Tolle bei den Klitschko-Brüden ist, dass sie Körper und Geist in Verbindung bringen. Natürlich wird auch ihnen manchmal alles zuviel. Und dann machen sie einfach ein paar Liegestütze, damit der Kopf wieder Sauerstoff bekommt und sie wieder klar agieren können. Auch ich habe gelernt, meine Emotionen in gewissen Momenten beiseite zu schieben. Genauso wichtig ist es aber, diese Mauer dann auch wieder einzureißen. Ich schaue jeden Morgen in den Spiegel und hinterfrage, ob ich das Richtige tue. Und am Wochenende versuche ich, mich mit andere Dingen zu beschäftigen, um nicht permanent über diesen schrecklichen Krieg nachdenken zu müssen. Allerdings fällt mir das schwer.

Haben Sie Angst?
Das, was ich tue, birgt ein gewisses Risiko. Auch wenn wir versuchen, dieses möglichst klein zu halten und verschiedene Kanäle der Kommunikation nutzen. Aber mein Umfeld ist schon besorgt. Wenn jemand ein Problem damit hat, weil ich wahrscheinlich abgehört werde, dann ist es halt so. Es ist schon spannend, wo die Angst anfängt und der Mut aufhört.

Fakten

Tatjana Kiel ist CEO von „Klitschko Ventures“ und langjährige Geschäftspartnerin von Dr. Wladimir Klitschko. Gemeinsam mit dem ehemaligen Boxweltmeister hat sie das Ratgeber-Buch „F.A.C.E the Challenge: Entdecke die Willenskraft in dir!“ geschrieben, in welchem körperliches und mentales Training vereint werden. Tatjana Kiel hat die Initiative #WeAreAllUkrainians ins Leben gerufen.

Glauben Sie daran, dass alles gut wird?
Ja, wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich das nicht machen. Ich weiß, dass die Gefahr da ist, dass zwei der wichtigsten Menschen in meinem Leben sterben können. Trotzdem können wir uns alle eine Scheibe von ihrem Einsatz abschneiden. Das Leben ist für uns alle endlich. Hoffentlich verstehen wir das nun und leben jenes Leben, das wir wirklich leben wollen.

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