Chefermittler:

„Bei uns wird kein Mordfall zu den Akten gelegt“

Österreich
13.12.2021 06:00

Chefermittler Dieter Csefan vom Bundeskriminalamt und sein Cold-Case-Team vergessen kein Mordopfer. Jetzt wird ein 49 Jahre zurückliegender Vergiftungs-Fall wieder aufgerollt. Parallel liegen aktuell noch weitere drei ungelöste Mordfälle auf dem Tisch. Mit neuen Methoden hofft man, die Täter noch der irdischen Gerechtigkeit zu übergeben. Nur die Gewalttat an einer Linzer Lehrerin vor 55 Jahren in Athen wird wohl ungesühnt bleiben. 

„Krone“: Ab wann wird ein Verbrechen zum Cold-Case-Fall?
Dieter Csefan: Ein Cold Case ist ein Kapitalverbrechen oder ein Vermisstenfall, der seit mindestens drei Jahren ungeklärt ist und Potenzial hat, durch neue Ermittlungen gelöst zu werden. Die verstrichene Zeit ist oft ein begünstigender Faktor. Menschen und Lebenssituationen ändern sich. Wer früher vielleicht nicht bereit dazu war, möchte nun aussagen. Hinzu kommen laufend wissenschaftliche und technische Innovationen, die zur Klärung beitragen können. Mord verjährt nie - wir legen keinen Fall ad acta!

Wie viele Cold-Case-Ermittler werden eingesetzt, und wie gehen sie vor?
Unser Cold-Case-Management selbst ist eine kleine, selbstständig agierende Einheit mit höchster Fachkompetenz - und arbeitet nach strukturiertem Ablauf: Sie selektieren und analysieren Fälle, planen mit der Justiz Methoden und weitere Schritte. Für die Umsetzung wird dann eine Ermittlungsgruppe mit Experten aus den benötigten Spezialbereichen wie Kriminalpsychologie, -technik oder -analyse zusammengestellt.

Gibt es denn aktuell offene Cold-Case-Fälle?
Grundsätzlich sei erwähnt: In Österreich werden über 90 Prozent aller Mordfälle und über 99 Prozent der Vermisstenfälle geklärt. Aber dennoch gibt es ungeklärte Fälle, ja. Ein Mord verjährt nie! Und auch wenn er nicht gerade aktuell von der Spezialeinheit im Bundeskriminalamt ermittelt wird: Kein Mordfall wird je ad acta gelegt!

Wie viele Fälle liegen gerade jetzt auf den Schreibtischen Ihrer Experten?
Das Team arbeitet fokussiert an einem bestimmten Fall. Wobei administrativ noch weitere zwei, drei mitbetreut und vorbereitet werden. Einer der Fälle ist der älteste Cold-Case-Mord in Europa, in dem noch aktiv ermittelt wird: die Gewalttat an Tanzschullehrer Heinz Kern in Graz im Jahr 1972.

Europas ältester Cold-Case-Fall

49 Jahre sind nach dem Giftmord an dem Grazer Tanzschullehrer Heinz Kern im September 1972 vergangen. Getötet durch einen mit Arsen versetzten Fleischaufstrich, den er als „Geschenk“ geschickt bekommen hatte. Bis heute ist die Tat ungesühnt. Doch die Experten im Bundeskriminalamt geben nicht auf, werten Hinweise und Spuren neu aus. Somit ist es der älteste Cold-Case-Fall Europas. 


Gibt es einen Fall, der besonders in Erinnerung geblieben ist?
Für uns gleicht kein Fall dem anderen - jede Cold-Case-Ermittlung stellt für uns individuelle Anforderungen und hinterlässt für sich spezielle Eindrücke.

Gerti macht nicht mehr auf
Wie vermutlich auch dieser: Vor 55 Jahren wurde Gertrude H. aus Linz in ihrer Wohnung in Athen erdrosselt. Ein Mord, der bis heute ungeklärt und nach griechischem Recht mittlerweile als verjährt gilt.

Zeitsprung ins Jahr 1966, in die Mekadoniastraße 35 in Griechenlands Hauptstadt Athen: Vorsichtig öffnet eine besorgte Hausmeisterin am Morgen des 7. Dezember mit einem Zweitschlüssel die kleine Garconnière von Gertrude H. aus Linz. Seit Tagen hatte sie die sympathische, bildhübsche Mieterin aus Österreich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auf mehrmalige Klopfversuche gab es keine Reaktion.

Und die Hausbesorgerin hatte sich zu Recht Sorgen um die ihr ans Herz gewachsene Gerti gemacht - wobei ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen wurden. Erschüttert über das verwüstete Zimmer lässt sie ihren Blick langsam ins Schlafzimmer schweifen - und verfällt in Schockstarre!

Gefesselt, geschlagen und mit Kabel erdrosselt
Mitten im Chaos liegt ein lebloser Körper. Zugedeckt mit einem Laken, nur die Füße ragen unter dem Stoff hervor. Es war Gertrude H. - halb nackt, um den Hals ein verknotetes Lampenkabel gewickelt. Es brauchte keinen Gerichtsmediziner, um das erschütternd Offensichtliche zu erkennen: Die 23-Jährige wurde erdrosselt. Und schnell war klar, dass sich Opfer und Täter wohl gekannt hatten, es sich um Mord aus Leidenschaft, nicht aus Habgier handelte. Der unbekannte Killer hatte kein Interesse an Gertrudes Wertgegenständen.

Bis heute ungelöst
Schockierende Bestätigung lieferte die Obduktion: Laut Gerichtsmediziner sei die Linzerin an den Händen gefesselt und geschlagen worden, ehe ihr der Täter per Kabel sprichwörtlich den Lebensatem nahm. Als vermeintlicher Glücksgriff für die Ermittlungen erwies sich das Tagebuch der 23-Jährigen. Penibel hatte Gertrude darin ihre Erlebnisse und Gedanken bis zum Tag ihrer Ermordung festgehalten.

Auch ihre Männerbekanntschaften. Und so gerieten drei Liebschaften der Deutschlehrerin ins Visier. Die aber schnell wieder als unschuldig galten. Unter ihnen ein US-Soldat. Weitere mutmaßliche Verdächtige aus dem Tagebuch seien laut Freunden des Opfers erst gar nicht befragt worden.

„Vermutlich weil es verheiratete Männer waren - und es der Polizei zu unangenehm war“, kritisiert eine Bekannte die Ermittlungen. Diese warf der Polizei grundsätzlich eine halbherzige Mörder-Jagd vor. Vielen Hinweisen aus dem Umfeld des Opfers sei gar nicht nachgegangen worden.

Fakten

Bis zu 10 Vermisstenfälle auf lange Sicht ungelöst

  • Pro Jahr gehen in Österreich zwischen 10.000 und 12.000 Vermisstenfälle bei der Polizei ein.
  • Rund 85 Prozent der Personen tauchen innerhalb einer Woche wieder auf.
  • Auf lange Sicht bleiben „nur“ etwa fünf bis zehn der Vermisstenfälle ungeklärt und werden gegebenenfalls zu Cold-Case-Fällen.
  • Mit Dezember 2021 sind hierzulande insgesamt 942 Personen im Elektronischen Kriminalpolizeilichen Informationssystem (EKIS) als vermisst gemeldet.
  • Diese sind automatisch auch in das Schengener Informationssystem übernommen und stehen allen Polizeibeamten in Europa zur Verfügung.

Bis heute ist der Mordfall ungelöst - und er wird auch ungesühnt bleiben. Selbst wenn der Killer mittlerweile ohne Angst vor dem Gefängnis gestehen könnte: Anders als bei uns war die Gräueltat laut griechischem Strafrecht 20 Jahre danach bereits verjährt.

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