„Krone“-Interview

London Grammar: „Unter dem Glitzer ist es dunkel“

Musik
16.04.2021 06:00

Mit den beiden ersten Alben hat sich das Nottingham-Trio London Grammar aus elegischen Indie-Popkreisen bis in den Mainstream vorgearbeitet. Frontfrau Hannah Reid zerschellte in den letzten Jahren aber fast am grassierenden Sexismus in der Branche. Auf dem Drittwerk „Californian Soil“ wagt sie eine metaphorische Reise durch ihre persönliche und mentale Wiederaufstehung und huldigt dem Feminismus. Ein Werk, das konfrontiert und ermutigt. Wir haben bei Hannah nachgefragt.

(Bild: kmm)

„Krone“: Hannah, wurde das neue London Grammar-Album „Californian Soil“ fertig, bevor sich die Pandemie über die Welt breitete?
Hannah Reid: Ja, das ist sich knapp ausgegangen, weil wir im Winter 2020 fertig wurden. Manche der Songs haben mittlerweile drei Jahre am Buckel, die sind nicht mehr so extrem aktuell. Wir haben die Veröffentlichung des Albums auch mehrmals verschoben, aber irgendwann muss man damit raus.

Was hast du denn so Spezielles auf kalifornischem Boden erlebt, dass er schlussendlich zum Überbegriff eurer neuen Musik erwählt wurde?
Wir waren mehrmals dort auf Tour und Kalifornien ist schön und in gewisser Weise hypnotisierend. Ich selbst habe dort sehr diverse Erfahrungen gemacht. Einerseits ist der ganze Staat wunderschön und einzigartig, andererseits hat mich die Gegend zum Reflektieren gebracht. Im Prinzip dreht sich das Album sehr stark um mich und meine Erfahrungen der letzten Jahre. Die Tatsache, dass ich mich finden musste und wieder zu einer alten, persönlichen Stärke zurückfand.

Grundsätzlich dreht sich das Album um die zwei Überbegriffe Ruhm und Feminismus. Fangen wir mit dem Ruhm an - London Grammer gibt es jetzt seit zwölf Jahren und bei euch ging es bislang immer nur bergauf. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, die du in diesen Jahren im Rampenlicht gewonnen hast?
Ich war nie eine berühmte Person im traditionellen Sinne. Also dass dich jemand auf der Straße erkennt, abfängt und ein Foto mit dir haben will. Insofern bin ich gut davongekommen. (lacht) Ich bewege mich aber in einer Industrie, in der es extrem wichtig zu wissen ist, was man will, wer man ist und wo die jeweiligen Grenzen liegen. Vor allem wenn du eine Frau bist. Es ist immer noch viel zu oft der Fall, dass Frauen übersehen oder herumgeschubst werden. Dass sie sich anders oder nicht ausreichend respektiert fühlen. Darum dreht sich das Album und diese Erfahrungen widerfuhren über die Jahre auch mir selbst oft genug.

Einerseits sind deine Texte sehr offen und verletzlich, andererseits klingt „Californian Soil“ vom Sound her so optimistisch und lebensbejahend wie kein Album zuvor.
Meine Texte sind oft dunkel und sensibel, weil sie mit Dingen in Zusammenhang stehen, die mein eigenes Leben erschwert haben. Aber ich will nicht, dass die Musik diese Schwere übernimmt. Wir wollten uns beim Sound bewusst verändern. Auch die Jungs wollten einen neuen Weg einschlagen und dieses Spiel aus Dunkelheit und Licht ist mitunter der Grund, warum es bislang mein Lieblingsalbum ist.

Mir gefällt schon das Cover-Artwork sehr gut, wo du auf einer minikleinen Insel auf dem weiten Ozean zu sehen bist. Ist das eine Verbildlichung dessen, dass du dich von der Welt oft abgenabelt fühlst?
Es geht vor allem um Einsamkeit. Das Bild reflektiert die Welt, in der ich mich zwischendurch seelisch befunden habe. Das Album selbst dreht sich aber um die Abnabelung von diesem Gefühl. Darum, wie ich gewachsen und gereift bin und wieder in die Spur zurückgefunden habe. Das Bild ist sehr surreal, aber surreale Dinge liebe ich.

Einer meiner Lieblingssongs ist „Lose Your Head“ - hast du manchmal das Gefühl, dass du im Musikbusiness mit all seinen bittersüßen Begleiterscheinungen den Kopf verlierst?
Dieser Song im Speziellen dreht sich eher um toxische Beziehungen und darum, wie man aufgrund seines falschen Verhaltens dem anderen gegenüber langsam den Kopf verliert. Ich hatte das Gefühl aber auch selbst. Ich litt sehr lange am Fibromyalgiesyndrom, wo deine Glieder permanent schmerzen, und wurde deshalb fast wahnsinnig. Ich musste mich in diese Zeit zurückversetzen, um Teile dieses Albums schreiben zu können.

Wie kommst du damit klar, dass du dich in deinen Texten extrem öffnest, aber auf der Bühne oft sehr introvertiert bist, weil du sehr stark unter Lampenfieber gelitten hast?
Das war eher ein Problem, das ich am zweiten Album verspürte. Wir haben wirklich sehr hart am Debütalbum gearbeitet und es fiel sehr intim und verletzlich aus. Ich habe damals eine ganz besondere Verbindung zu anderen Menschen gespürt und diesen Weg ein bisschen verloren. Ich musste das für „Californian Soil“ wieder neu erlernen. Ich habe realisiert, dass ich im Musikbusiness nur dann einen Platz habe, wenn ich mich verletzlich, ehrlich und authentisch zeige. Wenn ich offen ausspreche, was mich beschäftigt. Ich muss einfach die Geschichte meines Lebens erzählen.

Hattest du das Gefühl, dass du beim Zweitwerk die Verbindung zu den Fans und der Öffentlichkeit verloren hast?
Es war auch dort Verletzlichkeit zu hören, aber ich habe mich schon oft hinter meinen eigenen Texten versteckt. Für mich hat es sich so angefühlt, als würde ich die Dinge in einem sehr geschützten Raum sagen und ich war nicht bereit, wirklich ehrlich zu sagen, was bei mir los ist oder um mich herum so alles passierte. Ich liebe dieses Album immer noch, aber auf „Californian Soil“ gibt es mehr Offenheit und mehr Verletzlichkeit.

Kommen wir noch einmal zurück zu den USA. Das Land ist ja selbst voller Widersprüche. Es ist groß, schön und suggeriert den „American Dream“, es ist aber auch bigott, misogyn und gespalten wie nie. Es hat gute und schlechte Seiten, so wie jeder Mensch auch. Hast du diesen US-Touch als Metapher für deine eigene Persönlichkeit verwendet?
Als ich aufwuchs war ich, wie wohl die meisten in Westeuropa, sehr stark von der amerikanischen Kultur beeinflusst. Gerade die 90er-Jahre, mit den großen Popstars und Blockbuster-Filmen, waren prädestiniert dafür. Als wir dann das erste Mal mit dem Bus durch das Land tourten, war ich förmlich schockiert über die große Armut, die ich dort sah. In diesem Ausmaß habe ich das nicht erwartet und es hat mir das Herz gebrochen. Ich war naiv und auch etwas dumm, als ich meine erste Reise antat und habe viel daraus gelernt. Für mich selbst und meine Persönlichkeit habe ich die Erkenntnis rausgezogen, dass manchmal etwas, das sehr glamourös wirkt, unter der Oberfläche sehr dunkel sein kann. Die Musikindustrie und auch die Filmindustrie sind exakt so. Sie glitzern von außen, aber es ist längst nicht alles gut, was darunterliegt.

Wären London Grammar eine andere Band, würde sie aus Kalifornien stammen und nicht aus London bzw. Nottingham, wo ich euch formiert habt?
Der Name wäre sicher anders, aber ansonsten wären wir wohl die gleichen. (lacht) Wir hätten wohl weit weniger Erfolg, denn in den USA den Durchbruch zu schaffen ist für die meisten Bands ein Ding der Unmöglichkeit. Die Musik würde aber sicher dieselbe sein.

Auch in Großbritannien läuft längst nicht alles rund - Stichworte: Corona-Management, Brexit und Visa-Probleme für tourende Künstler in der Zukunft. Siehst du dunkle Zeiten aufkommen?
Ich hoffe sehr stark, dass die Reisemodalitäten kein Problem werden, denn es wäre verdammt unfair, wenn man den Leuten Kunst und Kultur verweigern würde, die sie vielleicht schätzen und lieben. Nur weil die Politik eine Entscheidung traf, die nicht durchdacht war. Ich hoffe sehr stark, dass es da einen Weg geben wird, der die Dinge vereinfacht denn bestraft werden im Prinzip nur die Bürger, die das ganz sicher nicht so wollten. Dahingehend bin ich eigentlich sehr positiv gestimmt. Ich fühle mich als Engländerin auch anders als vor fünf oder sechs Jahren, aber das ist ein kompliziertes und weitreichendes Thema. Wenn es um die Armut geht, ist es in England nicht mehr so viel anders wie in den USA, aber wenn etwas an den sozialen Medien positiv ist, dann die Tatsache dass all jene, die eine Stimme dringend brauchen und sie bislang nicht hatten, nun die Möglichkeit haben, gehört oder gelesen zu werden. Da hat sich einiges zum Besseren verändert.

Kommen wir zum Album zurück - gab es einen bestimmten, nachhaltigen Moment in deinem Leben, der dich zur losen Idee des Albumkonzepts gebracht hat?
Es war keine bestimmte Situation, die aus mir ausbrach, sondern eher eine immer wiederkehrende Thematik, die wahrscheinlich allen Künstlerinnen bekannt ist. Wenn irgendetwas in dir raus muss und sich seinen Weg bahnen will, dann passiert es unweigerlich sowieso. Die Thematik hat sich entwickelt, denn ich wollte auch nicht nur dieses eine Thema beleuchten, sondern die Palette schon etwas breiter aufstellen.

Hast du dir bei den Texten auch Grenzen gesetzt? Gewisse Gedanken bewusst nicht geteilt, weil sie dir zu persönlich erschienen?
Ich glaube auf dem Album gibt es nichts, das ich bewusst zurückgehalten habe. Ich hoffe wirklich die Leute mögen und schätzen das Album, denn sonst wäre ich sehr traurig. (lacht) Wenn ich mir das so überlege, ist es auch ziemlich erschreckend, wie offen ich mich hier präsentiere. Natürlich gibt es private Dinge an meinem Leben, aber wenn es um meine Entwicklung und die Dinge geht, die ich in diesem großen Themenkontext Feminismus erlebt habe, ist hier alles vorhanden.

Die Dinge entwickeln sich zum Besseren, aber freilich noch immer viel zu langsam. Siehst du dich gerne in der Rolle des Vorbilds und Sprachrohrs für andere Frauen und jüngere Musikerinnen?
Ich sehe mich nicht wirklich als Vorbild, sondern zehre von der jungen Generation an tollen Künstlerinnen, die für mich wie Idole wirken und mich inspirieren. Der Feminismus hat sich in den letzten paar Jahren stark verändert. Ich habe mich lange viele Dinge nicht zu sagen getraut, die aber noch jüngere Frauen heute selbstverständlich an die Oberfläche bringen. Das ist so wundervoll und bereichernd, dass es auch mir die Kraft gibt, mit Dingen nach außen zu gehen. Billie Eilish ist da ein sehr gutes Beispiel. Sie ist 17 Jahre jung und so selbstverständlich sie selbst, dass es eine Freude ist, sie zu sehen und zu hören. Es ist so toll, dass so viele junge Künstlerinnen in diese Richtung gehen.

Auch wenn sich in der Musikindustrie sehr viel verändert, die Fäden an den obersten Stellen ziehen immer noch die alten, weißen Männer.
Ja, das ist nach wie vor so und tatsächlich unverändert. Es entwickelt sich aber konstant einiges, denn es sind viele Dämme gebrochen und die können zum Glück nicht mehr neu errichtet werden. In den nächsten Jahren werden wir hoffentlich noch viel mehr Frauen an der Spitze der Musikindustrie und überall anders sehen. Es ist aber noch ein langer Weg zu gehen. Ich habe bemerkt, dass in meinem Umfeld viele Männer mit mir über diese Themen gesprochen haben und sich selbst reflektiert haben. Dass vielen gar nicht bewusst war, wie sie nicht sonderlich feministisch agierten. Das finde ich großartig, denn es bringt uns weiter. Ich habe das zuvor noch nie gesehen. Es gibt auch längst tolle Produzentinnen und mehr Studiotechnikerinnen. Auch etwas, das sich sehr wohl zum Positiven verändert.

Ein sehr beeindruckender Song ist „I Need The Night“, der sehr klar auf das Thema Misogynie anspricht.
In den Strophen spreche ich metaphysisch von Feminismus und weiblichen Erfahrungen, aber im Refrain lasse ich all diese schweren Themen frei und habe mit meinen Freundinnen einfach eine gute Zeit. Dieser Kontrast war mehr wichtig, denn Kontraste in der Kunst sollte man immer haben.

Schlüpfst du manchmal in die Rolle einer unbekannten, nicht näher definierten Person, um den Hörern die Botschaft zu vermitteln, dich persönlich aber aus dem Kern der Botschaft rauszunehmen?
Mal so, mal so. Ich habe daheim sicher 20 sehr gute Freundinnen und wir reden sehr viel über alle möglichen Themen. Es gibt immer mich selbst und meine Erfahrungen in den Songs, aber ich schöpfe auch viel Inspiration und Ideen aus den Unterhaltungen und Erlebnissen meiner Freundinnen. Es gibt ein paar Songs, wo ich möglicherweise auch eine Geschichte übernehme, die ich gehört oder erzählt bekommen habe.

„Call Your Friends“ scheint auf dich und deine Freundinnen anzuknüpfen. Darin geht es um Selbstliebe und wie schwierig es manchmal sein kann, diese zu verspüren.
Ich freue mich, dass der Song auf den Tisch kommt, weil er sehr gut ist, aber bislang noch nicht genug Aufmerksamkeit bekommen hat. (lacht) Es geht grob darum sich zu verlieben und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Auch um die Tücken, die diese Veränderungen mit sich bringen. Man lernt irgendwann sich selbst zu lieben, bevor man andere liebt. Das ist ein Thema, das früher oder später jeden trifft und mit dem vor allem viele meiner Freundinnen sehr stark zu kämpfen hatten.

Wie haben dich die Rollen im Rampenlicht und als stark beobachtete Frontfrau einer sehr erfolgreichen Band selbst über die letzten zehn Jahre geprägt oder verändert?
Zu Beginn meiner Karriere habe ich sehr viel von der Selbstsicherheit, die ich davor immer hatte, verloren. Heute bin ich noch sicherer und selbstbewusster als je zuvor. Die Reise war also lang und manchmal steinig, aber für mich ist „Californian Soil“ wie ein Neubeginn und ich hoffe inständig, dass ich noch sehr lange Musik machen kann. Das ist das Allerwichtigste.

Wie hast du diese Selbstsicherheit wiedergefunden? Was war ausschlaggebend dafür, dass du am Ende gestärkt aus allem hervorgegangen bist?
Ich habe sehr hart an mir gearbeitet und musste erst einmal die Dämonen finden, die sich in mir bewegten. Einfach nur älter zu werden kann hilfreich sein und irgendwann war mir klar, dass ich in gewissen Bereichen keine Kompromisse mehr eingehen durfte, sondern meinen Instinkten vertrauen musste. Extrem wichtig ist auch, sich mit den richtigen Leuten zu umgeben und ein stabiles Zuhause zu haben. Das kann schnell ins Ruckeln kommen, wenn man selbst unsicher ist.

Das Line-Up bei London Grammar ist unverändert, ihr seid noch immer die drei Konstanten von früher. Wie hat sich die Band und die Beziehung innerhalb der Band entwickelt?
Die Rollen in der Band haben sich nicht sonderlich verändert. Ich schreibe die Texte und das war schon immer so. Aber wenn es um die Musik geht, gibt es viel mehr Raum. Kein einziger Song wird heute fertig sein, wenn nicht alle drei von uns damit zufrieden sind. Wir sind sehr integer dem Arbeitsprozess gegenüber und unsere Beziehung zueinander ist stärker denn je zuvor. In einer Band zu spielen ist sehr intensiv, weil man die Mitglieder öfter sieht als die eigene Familie. Es braucht seine Zeit, um sich zu finden und zu wissen, wie man miteinander umgeht. Wir sind aber so fruchtbar und kreativ wie nie, arbeiten schon langsam am vierten Album und haben viel vor. Alles läuft sehr gut.

Was sollen die Hörer fühlen, wenn sie sich an „Californian Soil“ heranwagen?
Ich hoffe wirklich inständig, dass auch nur eine Person, die Ähnliches erlebt hat wie ich, von den Songs emotional berührt wird und sich danach verstanden fühlt. Man sollte sich auch bestärkt fühlen und ich würde es sehr schätzen, wenn eine emotionale Verbindung entstehen würde.

Kann man manche Texte auch so sehen, dass sie eine Art „poetische, verbale Rache“ an Menschen oder Erlebnisse aus der Vergangenheit sind?
Das Wort Rache ist mir jetzt wahrscheinlich zu brutal, aber manchmal ist das vielleicht gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. (lacht) Ich werde aber darüber nachdenken, denn das ist ein interessanter Zugang.

Wie würdest du dieses Album für dich in der London-Grammar-Diskografie einordnen?
Das Album ist anders als das Debüt, aber es hat dieselbe Verletzlichkeit und Offenheit. Es ist ein bisschen so, als würde sich nun ein Kreis schließen. Ich freue mich wirklich auf die Liveshows. Das Album ist für die Bühne gedacht - vielleicht sogar von Anfang bis Ende. Das wäre eine sehr gute Idee.

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele