Interview & Album

Kerosin95: Wilder Ritt über die Gefühlsebenen

Musik
26.03.2021 06:00

Am Schlagzeug von My Ugly Clementine sorgt Kathrin Kolleritsch europaweit für Aufsehen, doch die wahre Spielwiese steckt hinter Kerosin95. Eine wildwuchernde Melange aus Indie, Elektronik, Rap, Trap, Hip-Hop und Pop mit reichlich bittersüßer Lebenserfahrung gewürzt. Ein Gespräch über Missverständnisse, das Patriarchat und musikalische Selbsttherapie.

(Bild: kmm)

Schon im „Intro“ wird man als Hörer auf die wichtigen und gewichtigen Themen vorbereitet, die eine halbe Stunde lang folgen werden. Kathrin Kolleritsch aka Kerosin95 vertont darin diverse YouTube-Kommentare, die sich unter ihren Songs versammelt haben und zeigt damit ernstgemeinte Selbstironie. Unter anderem geht es darum, dass der Hörer die Beats der musizierenden Person geil findet, den Bart und die Person dahinter dafür nicht. Willkommen in der Welt des weitverbreiteten Unverständnisses. Kerosin95s Bitte als nichtbinäre Person wahrgenommen zu werden, wurde von einem österreichischen Tagesmedium als Einladung zum provokanten Themeninterview missverstanden, in dem trotz unendlicher Onlineweiten kein Platz mehr für die Musik blieb. Freilich: gender-neutrale Sprache und der Verzicht auf Pronomen bieten auch in Zeiten von Coronapandemie und Klimakrise Diskussionsstoff biblischen Ausmaßes, aber eine Diskussion sollte man nicht mit mangelndem Respekt verwechseln. Somit ist man schon mittendrin in der alles überladenden Thematik von Kerosins Debütalbum „Volume 1“, das, wie eingangs erwähnt, schon im Intro mit den Tücken der korrekten Kommunikation kämpft.

Fest der Doppelbödigkeit
„Rassistische und transphobe Kommentare lösche ich sowieso“, erzählt uns Kerosin95 beim Interview nach frischem Corona-Test und mit ausreichend Abstand, „die im Song verwendeten Kommentare fand ich aber witzig. Mir ist wichtig zu betonen, dass ich selbst sehr unterschiedlich darauf reagiere. Manchmal machen mich solche Kommentare traurig, manchmal auch wütend. Das kommt auf die jeweilige Laune an.“ „Volume 1“ ist ein Album voller doppelter Böden. Rein musikalisch entzieht sich Kerosin95 darauf jeglicher Genrezuschreibung und wildert in fast schon pubertärer Glückseligkeit zwischen Rap, Hip-Hop, Pop, Trap, Elektronik, Indie und Alternative-Strukturen hin und her. Inhaltlich ist der Albumbrocken nicht mehr ganz so leichtfüßig, behandelt er doch immerwährende Probleme des Alltagslebens von nichtbinären Personen, das Fehlen von Toleranz und Respekt und die nicht enden wollende Dominanz des Patriarchats. Kerosin95 kann sich mit der Funktion als Sprachrohr für derart gesellschaftsrelevante Themen durchaus identifizieren.

„Queerness im Inhaltlichen als auch im Auftreten nach außen ist in Österreich sehr karg vorhanden. Ich sehe mich aber nicht als ,CEO der Queerness‘, sondern sehe meinen Alltag und meine Lebensrealität in den Songs widergespiegelt. Alles, was in den Songs so anstrengend und mühsam klingt, passiert auch im wirklichen Leben. Ich bin mir darüber bewusst, dass Kunst viel Macht hat und sehr viele Leute zuhören, wenn ich ein Mikrofon in der Hand halte.“ Ein genaues Inhaltskonstrukt schwebt Kerosin95 beim Schreiben der Songs nicht vor. Intuition und das jeweilige Feeling im richtigen Moment haben Vorrang, aber „Kunst darf ruhig politischer sein. Ich mache mir schon Gedanken, was ich schreibe und wie ich meine Stimme sinnvoll nutzen kann.“ Kerosin95 nimmt sich die Freiheit in den einzelnen Songs extrem persönlich vorzugehen und mit traurigen bis depressiven Momenten in den Vordergrund zu preschen. „Wenn jemand so etwas kritisiert, lasse ich das erst gar nicht an mich ran. Dafür ist der Inhalt zu intim und persönlich. Man kann so einen Song langweilig finden, aber inhaltlich ist er unverrückbar.“

Gegenseitig befruchtend
Die Unterscheidung zwischen der Privatperson Kathrin Kolleritsch und der Kunstperson Kerosin95 ist dabei geringer als man vermuten würde. „Für mich ist Kerosin95 nur ein weiterer Spielplatz, um Dinge zu reflektieren und die Welt um mich herum verstehen zu können. Kerosin95 kann mit Kathrin im Dialog sein und umgekehrt, aber im Prinzip ist es meine persönliche Sache.“ Der große Unterschied zum Schlagzeugerposten bei der gefeierten und international prämierten Indie-Rock-Band My Ugly Clementine liegt vor allem an der künstlerischen Freiheit, die Kolleritsch als Kerosin95 gegeben ist. „Sagen wir so - ich habe hier die größte künstlerische Leitung und bin für alles, was man hört, hauptverantwortlich. Bei anderen Projekten teilt sich das natürlich auf, aber meine Projekte füttern und pushen sich gegenseitig. Ich ziehe überall etwas raus und entwickle mich damit weiter. Wichtig ist, dass sich alles gut anfühlt und ich dabei Spaß habe.“

Freilich wäre „Volume 1“ nicht ohne die weithin bekannte „Indie-Blase“ möglich gewesen. Im Studio tummelten sich u.a. Marco Kleebauer (Leyya, Bilderbuch-Produzent), Manu Mayr (5KHD) oder Mira Lu Kovacs, die auch als Gast auf der 90er-Indiepop-Hymne „Shiver“ zu hören ist. Klanglicher Eklektizismus im besten Sinne, denn „Volume 1“ hört man trotz der unterschiedlichen Zugangsweisen stets einen roten Faden an, den man wohl, so absurd das anhand der oft schweren Themen auch klingen mag, als Lebensfreude bezeichnen könnte. Inhaltliche Grenzen gäbe es sicher, betont Kerosin95 im Gespräch, aber nach dem ersten Album sind sie noch nicht näher definiert. Und überhaupt die Schwere. Ein passendes, aber pathetisches Wort, das nicht so ganz der Wirklichkeit entspräche. „Ich habe Gedichte geschrieben, die noch weit schwerer waren als diese Songtexte. Dort habe ich für mich bewusst beschlossen, sie nicht veröffentlichen und verkaufen zu wollen. Das ist die Freiheit der Kunst. Dass ich damit entscheiden kann, wie ich am Ende damit umgehe.“

Selbstliebe
Das Songwriting betrachtet Kolleritsch auf „Volume 1“ als therapeutisch. „In erster Linie geht es mir darum, meine Probleme zu verarbeiten oder einfach nur Geschichten zu erzählen. Wenn jemand anderes aber etwas daraus mitnehmen kann, ist das umso schöner.“ Als Schlüsselsong betrachtet Kerosin95 die Single „Heeey“, die auch inhaltlich etwas leichter als „Nie wieder fühlen“, „Meine Welt“ oder „Nacht“ ausgefallen ist. „Hier sind das Melancholische und Lebensbejahende in einem Song vereint. Die Songs sind alle nur ungefähr ein Jahr alt und in dieser Zeit bin ich durch alle Gefühlsebenen gegangen. Lustig, traurig, wütend, belächelt. Aus anstrengenden Situationen und schwierigen Gefühlen erwuchs mit der Zeit diese kleine Blume, die zum Album wurde. Rückblickend sehe ich es mit sehr vielen positiven Gedanken und freue mich darüber, wie liebevoll ich mich in dieser Zeit um mich selbst gekümmert habe.“ 

Am 4. Juni wäre ein Kerosin95-Konzert in der Wiener Sargfabrik geplant - ob das stattfinden kann ist vom jetzigen Standpunkt aus leider nicht zu sagen. Doch künftige Liveshows garantieren Vielseitigkeit. „Es gibt eine fixe Besetzung mit Schlagzeug, Bass und mir am Mikro. Zusätzlich gibt es noch eine Duo-Besetzung mit mir am Gesang und einem guten Freund an den Turntables. Je nachdem, welches Setting wo reinpasst.“ Bis dahin kann man sich mit „Volume 1“ in den Kerosin-Sog ziehen lassen.

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