Sperrzone Kolontar

Ungarns “Totenreich” plant Gedenkpark

Ausland
22.11.2010 07:03
Jenö K. hatte keine Chance. Am 4. Oktober um 12.37 Uhr war er tot. Zwei Meter hoch, Hunderte Meter breit und 35 km/h schnell hatte sich die giftige Welle über das Dorf Kolontar gewälzt. Um 12.43 Uhr erreichte sie Devecser und tauchte die Kleinstadt in Braunrot. Das Haus von Jenö K. steht noch, eineinhalb Monate nachdem im Aluminiumwerk von Ajka der uralte, brüchige Damm eines riesigen Bauxitschlammbeckens geborsten war. Es hat dem Tsunami aus Schwermetallen getrotzt. Nun soll es als Mahnmal Teil eines Gedenkparks werden.

Stolz sei er auf seine Männer, sagt Arpad Muhoray. Sie hätten "wie ihre Kollegen am 11. September in New York" ohne nachzudenken geholfen. Er hält seine flache Hand waagrecht auf Brusthöhe: "Bis hierher sind sie im Schlamm gesteckt." Muhoray ist Leiter des Katastrophenschutzes, und weil er so großartige Arbeit geleistet hat, auch gleich für den Wiederaufbau verantwortlich. Er sitzt im Besprechungszimmer des Gemeindeamtes von Kolontar. 

Obwohl der Raum blank poliert ist, bilden sich am Fußboden sofort rote Schlieren. In der ersten Woche nach dem verhängnisvollen 4. Oktober haben die Einsatzkräfte praktisch rund um die Uhr gearbeitet. Bis zu 1.400 Mann und 650 Lkws versuchten täglich gegen die Folgen der Giftschlammkatastrophe anzukämpfen.

Totenreich ist weiter Sperrgebiet
Kolontar ist nach wie vor Sperrgebiet. Die einzige Zufahrtsstraße wird von der Polizei abgeriegelt, nur wer die entsprechenden Papiere hat, darf das Totenreich betreten. Noch bevor man den Ort erreicht, wird es rechterhand dunkel. Ein mächtiger Wall, überwuchert von Gestrüpp, vielleicht zwanzig, dreißig Meter hoch, ragt empor wie ein frühzeitlicher Monumentalbau. Erst nach einigen Hundert Metern gibt er die Sicht wieder frei auf die Felder. Das Monstrum gehört zu einem der insgesamt zehn Becken, in dem die MAL AG einen teils flüssigen, teils festen, teils hochgiftigen Mix aus Schwermetallen endgelagert hat.

Es stinkt immer noch nach faulen Eiern, aber nicht mehr so arg wie noch vor einigen Wochen. Das Rotbraun hat etwas an Kraft eingebüßt, bedeckt jedoch weiterhin die Agrarflächen, klebt an den Uferböschungen der toten Bäche und hat sich längst in die Poren des frisch aufgetragenen Asphalts gefressen. Häuserfassaden und Gärten wurden mit der lebensfeindlichen Brühe getränkt, die darunter erstarrt sind.

Zehn Millionen Quadratmeter vergiftet
Die Erde dürfte ersten Messungen von Umweltorganisationen zufolge für viele Jahre verseucht sein. Für Arpad Muhoray kein Problem: "Verschmutzt ist der Boden nur bis zu fünf Zentimeter Tiefe. Wir graben aber 20 Zentimeter ab." Anschließend sollen "Energiepflanzen" mit kurzen Wurzeln das restliche Gift aus der Scholle saugen. Ein ehrgeiziges Ziel, wenn man bedenkt, dass insgesamt mehr als zehn Millionen Quadratmeter vergiftet wurden.

"In eineinhalb Jahren soll alles wieder o.k. sein", verkündet Joszef Ekes. Der grauhaarige Mann im blauen Militärpullover ist Parlamentsabgeordneter jenes Wahlkreises, zu dem auch Kolontar und Devecser gehören. Die Gefahren, sagt er, seien alle gebannt, es könne nichts mehr geschehen. Einen Steinwurf vom Gemeindeamt entfernt wurden unlängst acht Häuser abgerissen.

Gedenkpark soll an Katastrophe erinnern
Dort soll ein Gedenkpark entstehen und das Haus von Jenö K. quasi als Mahnmal erhalten bleiben. "Diesbezüglich ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen", flaxt Ekes, der mit einer für diese Region derzeit überdurchschnittlich guten Laune gesegnet ist. Wenn es nach ihm ginge, würde er lieber ein anderes, ähnlich devastiertes Anwesen als Museum wählen.

Besonders angetan hat es dem Politiker der neue Damm, der quer durch Kolontar pflügt. Er wurde unmittelbar nach der Katastrophe in nur vier Tagen errichtet und sollte im Falle von weiteren Giftflutwellen den noch intakten Teil des Dorfes schützen. Geht es nach Ekes, wäre der Aufwand allerdings gar nicht notwenig gewesen, denn von den Becken, die Kolontar übrigens schon seit dem Jahr 1943, als sie gebaut wurden, bedrohen, gehe keinerlei Gefahr mehr aus. Die Schauermärchen, von denen weltweit zu lesen war, seien alle nicht wahr. Wie herrlich schnell sich die Natur erhole, könne man schließlich beim neuen Damm sehen: "Auf dem wächst schon wieder Gras."

"Die Mehrheit der Bevölkerung möchte bleiben"
Ekes sieht die ökologische Apokalypse nicht mehr. Er sieht ausschließlich die Zukunft. Und in der ist für Horrorgeschichten kein Platz. Neuer Baugrund sei bereits erschlossen worden, völlig neue Wohngebiete würden entstehen. "Die Mehrheit der Bevölkerung möchte bleiben", sagt Ekes. Draußen stapft eine Frau in Gummistiefeln an zwei Polizisten vorbei. Sonst ist niemand zu sehen. Nicht einmal ein Vogel.

Loading...
00:00 / 00:00
Abspielen
Schließen
Aufklappen
kein Artikelbild
Loading...
Vorige 10 Sekunden
Zum Vorigen Wechseln
Abspielen
Zum Nächsten Wechseln
Nächste 10 Sekunden
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.

Kostenlose Spiele
Vorteilswelt