Hannes Androsch:

„Kann noch nicht erkennen, was die Regierung will“

Österreich
14.01.2018 08:13

Im Gedenkjahr 2018 erinnern wir uns an die Gründung der Ersten Republik 1918, an das Anschlussjahr 1938, an die Protestbewegung 1968, auch an Zwentendorf 1978. Für Dr. Hannes Androsch ist das Achterjahr 2018 darüber hinaus ein besonderes – er wird im April 80. „Jung im Geiste und im Herzen“, wie er im Interview mit Conny Bischofberger betont. Bei der neuen Regierung könne er „noch nicht erkennen, was sie will“. Bis jetzt sei ja noch nichts passiert, weil alles evaluiert werde. An eine Veränderung glaube er nicht: „Es wird alles anders gleich bleiben.“

Die Androsch International Consulting Group mit Sitz am Opernring 1, dem ehemaligen Heinrichhof des dänischen Architekten Theophil Hansen. Im Büro von Dr. Hannes Androsch stehen frische Tulpen und blühende Orchideen. Der Grand Seigneur der Sozialdemokratie (Androsch war jüngster Finanzminister und Vizekanzler der Regierung Kreisky) trägt wie fast immer einen dunklen Anzug mit Weste, die Edelsteine der goldenen Manschettenknöpfe passen zur Farbe seiner Krawatte.

Im „Krone“-Gespräch blickt der Industrielle, geboren im Anschlussjahr 1938, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Und verwebt dabei seine eigene Geschichte mit jener der Republik. Die Hände hat er meist im Schoß gefaltet, aber immer wieder schüttelt er Zitate – Gandhi, Churchill, Brandt – nur so aus dem Ärmel.

„Krone“: Mögen Sie Numerologie?
Hannes Androsch: Wenn Sie mir erklären, was das ist?

Der Glaube an die Magie von Zahlen.
Daran glaube ich zwar nicht, aber es hat einen Charme, Zusammenhänge mit Zahlen zu untermauern. - Denkt kurz nach, dann schmunzelt er. - Ich habe heute eine Autonummer, die mit 7 beginnt. Die chinesische Glückszahl ist 8. Und das Kennzeichen „W5“ musste ich damals an Ministerin Hertha Firnberg abtreten, und so hatte ich „W6“.

Zum Jubiläum „100 Jahre Republik“ finden dieses Jahr zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. Sie haben dazu das Buch „1848-1918-2018 – Acht Wendepunkte der Weltgeschichte“ herausgegeben. Also ist der Achter vielleicht doch eine magische Zahl?
Das ist ein Zahlenspiel. Wir haben uns acht Dreh- und Angelpunkte ausgesucht, die eine überdurchschnittliche Bedeutung für die Welt und für die Republik haben. Übrigens werde ich 2018 insgesamt acht Bücher herausgeben. – Lacht.

Wie wichtig ist es, sich zu erinnern?
Ohne Vergangenheit keine Zukunft! Churchill hat dazu angemerkt: „Je tiefer man in die Vergangenheit zu blicken vermag, desto besser kann man in die Zukunft schauen.“ Entwicklungen haben oft sehr lange Zusammenhänge, die Geschichte wirft sehr lange Schatten ... Ingeborg Bachmann hat gemeint: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ Und Gandhi sagte: „Die Geschichte lehrt uns, dass wir nichts gelernt haben.“ Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, müsen wir also wissen, woher wir kommen, wo wir stehen, wohin wir gehen und was wir dafür tun müssen. Wie sagte schon Einstein? „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Und wo steht Österreich im Moment?
Es geht uns sehr gut. Wenn wir 1918 als Bezugspunkt nehmen, als aus den Resten der zerfallenen Donaumonarchie die Erste Republik entstand, ein Staat, den keiner wollte, an den niemand glaubte, und wir jetzt 73 Jahre lang die Zweite Republik haben, unterbrochen vom Zweiten Weltkrieg, dann wird ganz deutlich, dass das eine Erfolgsstory geworden ist. Österreich ist eines der wohlhabendsten Länder. Meine Generation war die erste, die einen Lebensweg in Frieden, Freiheit und Wohlstand beschreiten konnte. Wenn wir das mit dem Lebensweg unserer Eltern und Großeltern vergleichen, sind wir eine unglaublich glückliche Generation. Das verpflichtet zu Dankbarkeit, aber wir müssen diesen Frieden und Wohlstand auch für unsere Nachkommen sichern.

Wo sehen Sie da eine Gefahr?
Willy Brandt meinte: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Das gilt auch für die Gesundheit und für die Freiheit. Man merkt erst, wie wichtig sie sind, wenn sie verloren gegangen sind. Wir dürfen uns deshalb nicht in die Falle des Entweder-Oder begeben. Wenn man sich nur auf die Sicherheit zu Lasten der Freiheit fokussiert, wird man am Ende beides verloren haben.

Ist das jetzt schon eine leise Kritik an der neuen Regierung gewesen?
Das ist vor allem eine Beobachtung über nicht erfreuliche Entwicklungen in ganz Europa, die in Richtung nationalistischer, protektionistischer Kleinstaaterei gehen. Autoritäre Tendenzen, wo immer sie auftreten, dürfen sich nicht wiederholen. Diese Lehre sollten wir aus der Geschichte jedenfalls ziehen.

Hat eine Figur wie Donald Trump die Macht, das demokratische Gefüge ins Wanken zu bringen?
Dass Trump ein Glücksfall der Geschichte ist, wird man schwerlich behaupten können. Ich vertraue auf die „Checks and Balances“ und die Erneuerungskraft der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber im Augenblick ist sein erratisches, unkontrolliertes, strategieloses Verhalten sicherlich mit ein Grund, dass wir nicht mehr eine multipolare Ordnung haben, sondern eine Unordnung.

Im Lauf der Geschichte lösen sich ja Krieg und Frieden und gute und schlechte Zeiten immer wieder ab. Wird demzufolge bald etwas Furchtbares kommen?
Was kommt, ist eben kein Schicksal oder gottgewollt. Das ist menschengemacht, und daher liegt es in der Verantwortung der älteren Generation, alles dafür zu tun, dass sich Fehler der Geschichte nicht wiederholen. Für uns heißt das: Europa ist nur gemeinsam stark, jeder einzelne ist zur Bedeutungslosigkeit im Spiel der globalen Mächte verdammt. Mark Twain hat das so formuliert: „Either we hang together or we will hang separately.“

Sie schütteln die Zitate nur so aus dem Ärmel. Haben Sie die alle im Hinterkopf?
Na ja, ein gewisses Repertoire habe ich durch die ganzen Artikel, Bücher und Interviews immer verfügbar.

Sie sind 1938 geboren. Inwiefern hat Sie das als Mensch geprägt?
Ich habe den Weltkrieg erst allmählich mitbekommen, hauptsächlich kenne ich ihn aus Erzählungen. Einer meiner Urgroßväter war Teilnehmer des 1. Maiaufmarsches 1890 im Prater und wurde von den Berittenen vertrieben. Also wenn die FPÖ jetzt berittene Polizei fordert, dann kommt diese Erinnerung, keine sehr angenehme, zurück. Im Jahr 1934 war die Wohnung meiner Eltern in Floridsdorf beim Wasserpark zerschossen. Mein Vater hatte verbotenerweise im Wohnzimmer eine Europakarte angebracht und dort den Frontverlauf eingezeichnet, der immer tiefer nach Russland hineinführte. Meinen Eltern war spätestens nach Stalingrad klar, dass Hitler diesen Krieg bravourös und vernichtend verloren haben wird.

Haben Sie eine Erinnerung an das Ende des Weltkrieges? Da waren Sie sieben Jahre alt.
Wir haben den Abzug der deutschen Wehrmacht, die vor den Russen flüchtete, bei meinen Verwandten in Südmähren miterlebt. Ein paar Tage später zog die Rote Armee ein. Mein Onkel hatte das einzige Badezimmer im Ort, das haben die russischen Offiziere benutzt. Es war ein heißer Junitag, wir gingen schon barfuß, als der Dorftrommler die Gemeindenachrichten verkündete: Punkt zwölf haben alle Südmährer Haus und Hof zu verlassen! Als Österreicher durften wir zwei Tage länger bleiben. Da führte mich meine Mutter zum Fenster und sagte: „Schau dir das an, da geht ein Dorf nach dem andern.“ Sie zeigte auf die Straße, wo sich eine Schlange von Menschen in schwarzem Sonntagsgewand in einer S-Kurve vorwärtsbewegte. Weg aus ihrer Heimat, und sie durften nur das mitnehmen, was sie am Leib tragen konnten. In der Folge erlebte ich zehn Jahre sowjetische Besatzung.

Was bedeutet das Gedenkjahr 2018 für Sie ganz persönlich?
Schon wieder ein Achter. Auch für mich: mit einem Nuller dran. Und ich erbitte zu meinem Geburtstag im April eines: Nur keine Laudationes! Ansonsten habe ich keine besondere Befindlichkeit, denn ich fühle mich jung im Geiste und im Herzen. Ich denke, der Tag vor dem Achtzigsten wird sich nicht sehr unterscheiden vom Tag danach, außer ein Komet schlägt ein. Was ich mir vornehme, ist: Vielleicht einige Gänge zurückzuschalten, aber das habe ich schon längere Zeit versucht und bin glanzvoll gescheitert.

Hält Sie das so jung?
Wer rastet, der rostet! Verzeihen Sie, schon wieder ein Zitat. Was hält mich jung? Zunächst genetische Konditionierung. Dann habe ich immer sehr viel Sport betrieben, ich habe nie geraucht, vielleicht gelegentlich das eine oder das andere Glas mehr getrunken, als sinnvoll gewesen wäre, das schon. Und dann bin ich seit der Jahrhundertwende ein F.M.Mayr-Kur-Fan geworden. Das mache ich dreimal pro Jahr länger und dazwischen immer wieder auch kurz. Ich glaube, dass das lebensverlängernd ist.

Wenn Sie sich eine Linie vorstellen, die mit der Geburt beginnt und dem Tod endet, wo stehen Sie dann im Moment?
Ich würde da der Sterbestatistik folgen. 85 Prozent meines Lebens liegt mit höchster Wahrscheinlichkeit schon hinter mir.

Stellen Sie sich oft die Frage, wie Sie die verbleibenden 15 Prozent Ihres Lebens sinnvoll nutzen?
Ja. Ich nehme mir immer wieder vor, mich aus den Tageszwängen zu befreien und – solange es gesundheitlich möglich ist – das Leben zu genießen. Dafür hatte ich in meinen bisherigen acht Jahrzehnten nicht die allermeiste Zeit.

Wie sehen solche Momente aus?
Das sind ruhige Tage in Altausse, in Lech oder am Meer in Mali Losinj. Aufs Wasser schauen, die Seele baumeln lassen. Sich Neruda in Erinnerung rufen, der gesagt hat: „Ich bekenne, ich habe gelebt.“

Gibt es etwas, was Sie in Ihrem Leben bereuen?
Man kann die Vergangenheit nicht bewältigen, man kann sie, mit all den Vorzügen und Fehlern, die man gemacht hat, höchstens verstehen. Ich bereue nichts.

Was war Ihr größer Fehler?
Gute Frage. Dass ich nicht immer so konsequent war, wie ich es hätte sein können – aus Bequemlichkeit oder auch aus Feigheit.

Herr Dr. Androsch, Sie waren viele Jahre Regierungsmitglied. Macht es denn die Regierung im Moment gut?
Ich kann noch nicht erkennen, was sie will. Was sie wollte, war klar: An die Ämter kommen! Das ist legitim. Aber außer ein paar Schnellschüssen, vorwärts zurück, ist bisher noch nichts passiert, weil ja alles evaluiert wird. Wir haben keine Regierung, wir haben eine Evaluierung!

Ist das nicht ein wenig polemisch, vier Wochen nach der Angelobung?
Aus Fairness verdient die Regierung die Chance des Zweifels, aber beim Philippi des Budgets sehen wir uns wieder. Ende März wird es präsentiert, das in Zahlen gegossene Regierungsprogramm. Da kann sie sich nicht mehr verbal drüberschwindeln, da wird sich zeigen, wie viel Geld es für die Universitäten, für die Bildung, für die Landesverteidigung usw. gibt, das ist dann die Nagelprobe.

Wird sich die SPÖ in der Opposition erholen?
Das hoffe ich. Aber es gilt: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Das ist nicht nur ein Problem der SPÖ, sondern der Sozialdemokratie in ganz Europa. Angesichts der Globalisierung in einer vernetzten Weltwirtschaft, mit Machtverschiebungen von West nach Ost - die Sonne der Geschichte wendet sich wieder dem Osten zu! –, des Wechsels vom Industriezeitalter in ein digitales Zeitalter, sind neue Antworten zu finden. Die Politik muss den Menschen Perspektiven öffnen und damit Orientierung und Halt geben.

Trauen Sie das der jetzigen Regierung zu?
Ankündigungen haben wir ja genug gehört, jetzt wollen wir Taten sehen. Vielleicht passt dieses Zitat: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wenn ich es sarkastisch formuliere, würde ich sagen: Es wird alles anders gleich bleiben.

Welches Zeugnis stellen Sie Sebastian Kurz aus?
Offensichtlich erfolgreich, machtbewusst, ein geschickter Polit-Karrierist. Was ihn außer dem Machtstreben antreibt, weiß ich nicht, aber vielleicht kommt das Sein hinter dem Schein noch hervor.

Ringt er Ihnen nicht auch ein bisschen Bewunderung dafür ab, dass er die ÖVP erneuert hat?
Das kann ich nicht sehen. Kurz hat eine lebensgefährliche Schwäche der ÖVP, die drohte, unter 20 Prozent abzusinken, geschickt, ja geradezu erpresserisch genutzt und seinen Widerpart Christian Kern als Bundeskanzler ausgehebelt.

Muss man Kern nicht den Vorwurf machen, dass er sich hat aushebeln lassen?
Völlig richtig. Er hätte damals, als er den Plan A präsentiert hat, sofort wählen lassen müssen. Ich bin sicher, er hätte deutlich über 30 Prozent der Stimmen bekommen.

Haben Sie ihm das nicht gesagt?
Er hat mich nicht gefragt.

Industrieller, Vater, Visionär
Geboren am 18. April 1938. Von 1970 bis 1981 ist er Finanzminister, 1976 bis 1981 Vizekanzler der Regierung Kreisky. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik wird Androsch Generaldirektor der CA. 1989 gründet er die AIC Androsch International Management Consulting. Dr. Androsch lebt in Wien und Altaussee und engagiert sich in Wirtschaft, Wissenschaft und in der Gesellschaftspolitik. Verheiratet seit 1964, aus dieser Ehe stammen zwei Töchter (Claudia ist 53, Natascha 49). Sein Sohn Gregor ist 20 Jahre alt.

Conny Bischofberger, Kronen Zeitung

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