Fast ein Vierteljahrhundert nach dem letzten Werk gibt es mit „More“ jetzt wieder ein neues Album der immer schon etwas schrägeren Britpop-Legenden Pulp. Jarvis Cocker und Co. gelingt ein famoses Alterswerk, das ganz bewusst in der Band-Vergangenheit rüsselt, aber nicht in emotionaler Nostalgie versinkt.
Wenn man genauer darüber nachdenkt, war das mit dem Pulp-Comeback irgendwie doch klar, auch wenn man lange nicht daran glauben mochte. Die kommerziell erfolgreichere, aber auch künstlerisch nicht ganz so diffizile Britpop-Ecke feiert fröhliche Urständ, da können die Gedankenvollen ihrer Zunft nicht nachhinken. Blur eröffneten die Reunion-Reigen mit umjubelten Wembley-Shows und einem würdigen Album, dann brachte die lang erwartete, aber stets von innen befeuerte und ständig verschobene Reunion der Gallagher-Brüder die Ticketsysteme auf der ganzen Welt zum Erliegen – ihre am 4. Juli in Cardiff startende Comebacktournee erreicht vielleicht nicht ganz die Sphären von Coldplay oder Taylor Swift, haben die beiden Rabauken aber einen möglichst langen Atem und ruinieren sich nicht gegenseitig, könnte die Rückkehr von Oasis markante Ritzen in die Welt des modernen Musikbusiness kerben.
Bewusste Vielschichtigkeit
Hinter diesen Lichtgestalten einer schnell in sich implodierenden Szene lauerte mit Jarvis Cocker stets der unscheinbarste aller Frontmänner. Aber auch jener, der seine Gefühle musikalisch am vielseitigsten und textlich am emotionalsten zu vermitteln wusste. Pulp waren immer eine Band, die sich nicht so leicht ins Herz wie Oasis und nicht so leicht in die Gehirne wie Blur kämpfte, aber durch ihre bewusste Vielschichtigkeit eine Stellung einnahm, die künstlerisch weit über den Mitbewerb hinausragte. Das lag nicht zuletzt auch an der Grenzenlosigkeit, von der die zwei Großen nur träumen konnten. Spoken-Word-Songs, Manchester-Rave-Einlagen, astreine Mitte-90er-Jahre-Britpop-Zitate, hymnische Rock-Ausritte, abgespacte Funk-Anleihen – bei Pulp hatte immer alles Platz, was irgendwie Spaß und nicht immer Sinn machte. Nicht zu verwechseln mit Sinnlosigkeit, die im Pulp-Kosmos mitnichten auszumachen ist.
Bei einem Album-Comeback kann freilich viel mehr danebengehen, als sich alle heiligen Jahre live hoch bezahlt in die größten Hallen der schönsten Städte zu stellen. Man muss sich mit dem eigenen Œuvre messen. Mit einer Vergangenheit, die sich nicht nur für Hörer, sondern auch für die Musiker selbst frivol und verheißungsvoll anfühlt. Als Pulp vor einigen Monaten erklärten, mit „More“ das erste Studioalbum nach 24 Jahren zu veröffentlichen, haben treue Fans in der Bauchgegend keine Unsicherheit, sondern reine Vorfreude verspürt. Wissend, dass Onkel Jarvis‘ Qualitätskontrolle strenger ist als bei vielen anderen und ebenso wissend, dass ein Großteil der Songs zumindest in Skizzen schon mehr als eine Dekade auf dem Buckel haben. Hat schließlich schon vor 30 Jahren funktioniert. Der Pulp-Hit „Disco 2000“ war das, was die anderen nicht hatten. Wo Oasis‘ „Wonderwall“ zu eingängig und schemenhaft und Blurs „Song 2“ zu prollig mäanderte, zeigten Cocker und Co. jene Grandezza, die der Konkurrenz im Erfolgsrausch abhandenkam.
Lernfähigkeit im Alter
Jarvis ist mittlerweile in seinen 60ern angekommen. Pulp haben zwei Reunions hinter sich, die letzte wurde sogar mit einem neuen Song gefüllt. Differenzen und Animositäten sind einer gewissen Altersmilde und Klarheit bezüglich der eigenen Legende gewichen. Zudem starben Cockers Mutter und Bassist Steve Mackey, was den Albumprozess genauso beschleunigte, wie spät gewonnene Einsichten des Bandchefs. Mithilfe von Psychotherapie grub er tief und ergründete seine fragile Künstlerseele und ihre dunkelsten Geheimnisse, dazu führte ein gerechtfertigtes Maß an Selbstkritik dazu, dass ihm bewusst wurde, dass er der Hauptverantwortliche für die ewige Verschleppung von Songs und einem potenziellen Album sei. Cocker hatte sein Projekt Jarv Is, er ging unter die Buchautoren und vergnügte sich künstlerisch mit Pianist Chilly Gonzales. Dass Cocker mit der endgültigen Pulp-Rückkehr auch Offenheit für Kompromisse und Teamarbeit mittransportierte, muss man ihm anhand seines vorangeschrittenen Alters positiv zugestehen.
„More“ ist ein programmatischer und inhaltlich exakt getroffener Titel. Es gibt mehr Pulp – und zwar aus allen Phasen und Momenten der mittlerweile mehr als 40 Jahre andauernden Geschichte. Mit dem Opener „Spike Island“ lassen uns Cocker und Co. von der Ungezwungenheit und Freiheit der britischen Indie-90er träumen, „Partial Eclipse“ ist ein getragener, in einen feinen Klanganzug gesteckter Spoken-Word-Track, „Farmer’s Market“ erzählt von Cockers Freude über seine neue Ehefrau und „Grown Ups“ ist der von seinem Sohn Albert inspirierte, aber auch zum Scheitern verurteilte Versuch, sich die Kindheit auch im hohen Alter nicht ganz aus dem Selbst radieren zu lassen. „Got To Have Love“ ist ein opulent-brillanter Beweis für Cockers Fähigkeit, jede Spur von Coolness zugunsten echter Liebe hintanzustellen und „Hymn Of The North“ erinnert an artifiziell-poppige Schrägheit, die sich gerne in einer vom Klavier getriebenen Romantik auflöst.
Verzicht auf Eruptionen
Das erst achte Studioalbum der nordenglischen Kunstbeflissenen ist eine ganz und gar unpeinliche, mit sehr viel Pathos und Schönheit versetzte Rückschau auf eine Karriere, die bewusst gerne Haken schlug und im Sinne des großen Ganzen gerne auf den schnellen Erfolg und kurzfristige Eruptionen verzichtet hat. Melancholie wird hier mit bewusster Trauer inszeniert, die flotten Stellen vermitteln Freude und wenn es orchestral wird, darf die Gänsehaut auffahren. Sprich: Pulp nehmen sich erst gar nicht vor, das klischeehafte britische Understatement zu bedienen, sondern verknüpfen alte Songideen mit neuer Willenskraft so gut, dass „More“ fast schon das Gefühl eines Best-Ofs vermittelt. Wie viele Bands kennen Sie, die nach mehr als vier Dekaden Existenz noch ein Album veröffentlichen, das auch über die Popszene hinaus ein mittelprächtiges Erdbeben evoziert, indem es einfach gut klingt und nicht nur mit einem guten Marketingschmäh auftrumpft? Very well done, Lads!
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