Murat Üstün

„Wieder zurück in die Ruhe“

Vorarlberg
26.02.2023 14:25

Einmal im Jahr besucht Musiker Murat Üstün seine erste Heimat in der Türkei. Nach vielen Wanderjahren ließ er sich in Rankweil nieder - und möchte von dort nicht mehr weg.

„Am Stadtrand von Izmir, in einem kleinen Dorf direkt am Meer, bin ich zur Welt gekommen. Das Dorf heißt Narlidere, was übersetzt Granatapfelbach bedeutet ...“, beginnt der türkischstämmige Musikpädagoge Murat Üstün aus seiner Kindheit zu erzählen. Da klingelt das Telefon. „Gehen Sie ruhig dran“, sage ich und stoppe das Band. „Das ist meine Schwiegermama. Das drücke ich sofort weg.“ - „Sind Sie sicher?“, wende ich ein und füge rasch hinzu: „eine Frau, zum Beispiel, will immer wissen, wo ich bin. Auch wenn ich gerade erst aus dem Haus gegangen bin.“ Herr Üstün lacht herzlich. „Nein, nein. Die Schwiegermama wohnt derzeit bei uns, weil sie krank ist. Wir peppen sie gerade wieder auf.“

Er ist ein ungemein netter und warmherziger Mann, von ausgesuchter Höflichkeit. Wenn er seine Erinnerungen ausbreitet, schimmert fast ein wenig orientalische Erzähllust durch. „Mein Vater war Seemann. Er steuerte die Fähren in der Bucht von Izmir. Schon als Kind durfte ich mit den Fischern hinaus aufs Meer und nach dem Einholen der Netze Rotwein mit ihnen trinken. Meine übrige Verwandtschaft war mit Landwirtschaft beschäftigt. Die arbeiteten auf so Mandarinen- und Orangenplantagen...“

Musiker Murat Üstün in seinem Rankler Heim (Bild: mathis.studio)
Musiker Murat Üstün in seinem Rankler Heim

Robert Schneider: Das stelle ich mir aber herrlich vor. Unter Orangenbäumen...
Murat Üstün: Ich habe es gehasst. Um sechs Uhr aufstehen und bis zum späten Abend meinem Großvater helfen, die Mandarinenbäume zu wässern. Zwei Tage haben wir dafür gebraucht. Je nach Hitze mussten wir das drei, vier Mal im Monat machen. Mein Vater sagte: Wenn ihr Kinder nicht in der Landwirtschaft arbeiten wollt, müsst ihr das auch nicht. Und Zack sind wir umgezogen. In das modernste Viertel von Izmir, das heute eine Fünf-Millionen-Stadt ist. Das Viertel lag nur dreißig Kilometer von unserem Dorf entfernt, war aber eine so ganz andere Welt. Schöne, gepflegte, moderne Menschen. Meine Schwestern haben Miniröcke getragen. Damals schon. Die krassen Kulturunterschiede sind ja nicht nur hierzulande ein Problem. Integrationsprobleme gab und gibt es auch in der Türkei. Bis heute.

 Wie kam es, dass Sie Musik studiert haben?
Ein Nachbarkind aus der Volksschule, der Özer, hat Mandoline gespielt. Der Klang dieses Instruments an schönen Sommerabenden, wenn wir draußen saßen, hat mich sofort fasziniert. Ich wollte auch Mandoline spielen. Also haben mich die Eltern im Musikunterricht angemeldet. Wir hatten einen Lehrer, der nie ohne eine halbe Flasche Wein intus zum Unterricht kam. Aber er war so ein lieber Mensch. Und vor allem: Er hat uns mit seinem Unterricht total gefesselt. Er ging zu meinem Vater und meinte, dass der Junge unbedingt aufs Konservatorium gehen müsse. Mein Vater wusste nicht, was ein Konservatorium ist. Es waren 350 Bewerber bei der Aufnahmeprüfung. 23 haben sie genommen. Ich war dabei. So fing es an. Dort habe ich Horn und Klavier studiert. Bis heute lebe ich von der Musik, denn außer Spiegeleier machen, kann ich nichts anderes.

Murat Üstüm mit dem Horn (Bild: mathis.studio)
Murat Üstüm mit dem Horn

In Izmir Horn und Klavier studieren? War das nicht sehr exotisch?
Ganz und gar nicht. Durch die Auswirkungen der Reformen Kemal Atatürks unterrichteten internationale Lehrer am Konservatorium. Ich habe neun Jahre bei einem deutschen Lehrer studiert. Dennoch klang mein Hornspiel nicht wie auf den Schallplatten. Deshalb wollte ich nach Deutschland, um meine Technik zu perfektionieren.In Deutschland wurden Sie prompt Hornist am Musiktheater in Gelsenkirchen. Bis eines Tages der Zirkus vor der Tür stand?
Nicht so schnell. Ich musste wieder zurück in die Türkei, um Militärdienst zu leisten. Damals gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder Militärdienst oder Verlust der Staatsbürgerschaft. Als ich zurückkam, war die Stelle nicht mehr frei. Durch Zufall las ich, dass der Zirkus Hagenbeck einen Dirigenten für seine Band sucht. Ich dachte, da kannst du was von der Welt sehen und bewarb mich. Wir tourten monatelang durch Arabien und Fernost. Im Zirkus arbeitete eine wunderbare Seiltänzerin, die wir mit der Band begleiteten. Und ein superlustiger Clown. Der sagte nach einer Vorstellung zu mir: „Du armer Musiker, du siehst nicht gut aus. Komm, meine Tochter Mariza soll dir einen Kaffee machen.“ Bis heute mache ich diesen Kaffee für die Ballerina, die meine Frau geworden ist.

Der Clown war kein Geringerer als Walter Galetti, der 2020 gestorben ist, unzählige Ehrungen erhalten hat und zu den sogenannten “sieben Weltclowns" zählt. Wie war die Erfahrung im Zirkus?
Wir waren 18 oder 19 Nationen, mit allem Drumherum etwa 50 oder 60 Personen. Egal, wo wir auf der Welt gastierten - wir haben zusammengehalten. Nationalitäten oder Religionen spielten keine Rolle. Niemand konnte uns etwas anhaben, obwohl irgendwelche Sponsoren in Südkorea einmal mit den ganzen Künstlergagen abgehauen sind. Dieses Miteinander über alle Grenzen hinweg war so ein großartiges Erlebnis.

Murat Üstüm mit dem Alt-Landeshauptmann Herbert Sausgruber (Bild: mathis.studio)
Murat Üstüm mit dem Alt-Landeshauptmann Herbert Sausgruber

Wie kamen Sie dann nach Vorarlberg?
Als das mit dem Zirkus zu Ende ging, haben mich Walter und Mariza mit nach Vorarlberg genommen. Walter Galetti war ja mit einer Rankweilerin verheiratet. So bin ich hier sesshaft geworden.Sie unterrichten seit über 30 Jahren an der Musikschule in Dornbirn Waldhorn und Klavier. Nächstes Jahr kommen Sie in Pension. Überlegen Sie, nach Izmir zurückzukehren?
Diesen Drang verspüre ich überhaupt nicht. Klar, ich fahre im Jahr ein Mal für zwei Wochen dorthin. Meine Geschwister leben dort. Und den Holzsteg von Narlidere gibt es immer noch, wo ich als Kind stundenlang gesessen bin und in die Zukunft geträumt habe. Diese Zeit vermisse ich heute noch. Ich liebe mein Land, aber das ganze politische Drumherum mag ich nicht. Nach zwei Wochen spüre ich: Murat, du musst wieder zurück nach Klaus. Zurück in die Ruhe.

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