Russland-Experte:

„Nur Putin hat es in der Hand, Krieg zu beenden“

Ausland
16.02.2023 06:00

In wenigen Tagen jährt sich der russische Angriffskrieg zum ersten Mal. Da in Moskau laut Experten Panzer und gepanzerte Fahrzeuge bereits knapp werden, muss Russland noch vor dem Eintreffen der Panzer-Lieferungen des Westens in der Ukraine handeln. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rechnet mit einer schnellen Reaktion des Kreml und hält einen Racheakt für möglich. Im Interview mit krone.at erklärt der österreichische Historiker und Russland-Experte Peter Ruggenthaler, warum die Waffenlieferungen notwendig sind, wann die Gefahr eines Atomkriegs steigt und wieso die Mehrheit der Menschen in Russland Hoffnung gibt.

krone.at: Immer wieder werden Stimmen laut, dass man keine Waffen an die Ukraine liefern soll - denn dies würde den Krieg nur in die Länge ziehen. Aber ist das wirklich so einfach?
Peter Ruggenthaler: Das ist nicht irgendein Krieg, sondern ein Angriffskrieg, noch dazu von einer UNO-Vetomacht. Die internationale Ordnung nach 1945 wurde entscheidend von der Sowjetunion mitgestaltet und nun von Putin zerstört. Die Ukrainer werden sich nicht ergeben. Seit 2014 herrscht in ihrem Land Krieg, seit der Eskalation vor einem Jahr kämpfen sie um ihr Überleben. Sie wissen, was ihnen blüht. Man mag sich vorstellen, was passiert, wenn die Wagner-Kriminellen weitermarschieren, oder auch die reguläre russische Armee. Noch mehr Kinder und Frauen werden vergewaltigt, verschleppt und umgebracht. Es ist das legitime Recht der Ukraine, sich Waffen zu besorgen. Um sich verteidigen zu können, brauchen sie nun einmal Waffen. Nur Putin hat es in der Hand, den Krieg zu beenden. Doch das tut er nicht. Seit fast einem Jahr lässt er erbarmungslos angreifen und verheizt damit auch das Leben von Zehntausenden, die sinnlos in den Tod an der Front geschickt werden. In dieser Zeit hat die russische Armee keine nennenswerten Geländegewinne erzielt. Man kann im Moment nur darauf hoffen, dass sich diese Erkenntnis eines Tages im Kreml durchsetzt und die Fronten zumindest erstarren.

Und dann?
Dann sollte man Putin in Ruhe lassen. Sollte er seine Macht von außen bedroht sehen, steigt die Gefahr eines Atomkriegs. Über einen demokratischen Neuanfang kann man erst sprechen, wenn er eines Tages Geschichte ist. Doch selbst wenn es plötzlich einen neuen Michail Gorbatschow geben sollte - es wird Jahre dauern, um Vertrauen wiederherzustellen.

Befinden wir uns in einem neuen Kalten Krieg?
Das Denken des Kalten Krieges ist vorbei. Die Teilung Europas in Einflusssphären wurde damals akzeptiert. Tatenlos sah der Westen zu, als die Volksaufstände, Revolutionen und Reformbewegungen wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei gewaltsam mit Panzern niedergeschlagen wurden.

Zur Person

Peter Ruggenthaler, Jahrgang 1976, ist stellvertretender Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung Graz und Mitglied der Österreichisch-Russischen Historikerkommission. Er studierte Geschichte und Slawistik in Graz und in St. Petersburg und forscht seit 1998 mit dem Schwerpunkt Kalter Krieg in russischen Archiven.

Man hört immer wieder, dass Putin Kriege führt, um sich die Zustimmung in der Bevölkerung zu sichern. Wie sehen Sie das?
Die Annexion der Krim war sicher auch ein Mittel, den Herrschaftsanspruch Putins zu festigen. Als er sich nach der verabredeten Rochade mit Medwedew 2012 wieder Präsident Russlands nannte, rumorte es in der russischen Bevölkerung. Putins Unterstützungswerte lagen im Keller. Zehntausende Moskauer demonstrierten regelmäßig. Aber auch in anderen Landesteilen gingen Menschen auf die Straße. Dann zog Putin die „nationale Karte“. In der Tat schnellten seine Beliebtheitswerte in die Höhe.

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Als im Oktober in einer bekannten Kreml-TV-Propagandashow der Moderator forderte, ukrainische Kinder sollten ertränkt bzw. verbrannt werden, war der Aufschrei auch in Russland groß.

Der Experte geht davon aus, dass die Unterstützung der „Militärischen Spezialoperation“, wie der Kreml den Krieg nennt, in Russland weit niedriger ist, als sie von offizieller Seite dargestellt wird.

Hoffnung gibt die, ich vermute doch, Mehrheit der Menschen in Russland, die eben nicht dazu bereit ist, den Krieg ohne Wenn und Aber zu unterstützen. Hunderttausende Männer flüchteten ins Ausland. Ein Großteil der Bevölkerung schweigt, aus Angst. Jahrelang ließ Putin Demonstrierende niederknüppeln und einsperren. Als im Oktober in einer bekannten Kreml-TV-Propagandashow der Moderator forderte, ukrainische Kinder sollten ertränkt bzw. verbrannt werden, war der Aufschrei auch in Russland groß. Man sieht aber, wohin diese von oben verordnete, künstlich konstruierte faschistoide Ideologie führt. Sprich, das Russentum über alles zu stellen und den Ukrainern die Existenzberechtigung abzusprechen. Russische Soldaten brüsteten sich, Ukrainer gefoltert und ermordet zu haben. Es ist zu befürchten, dass nicht nur in Butscha, Borodjanka und Irpin bestialische Kriegsverbrechen begangen wurden.

Kritiker würden nun anmerken, dass man sich mit Schweigen auch schuldig macht. Können Sie dem zustimmen? Gibt es eine russische Kollektivschuld?
Es gibt keine Kollektivschuld. Aber die Frage der Verantwortung einer Gesellschaft ist eine schwierige. Machen sich Eltern kleiner Kinder schuldig, wenn sie sich nicht offen gegen ein Regime stellen? Wenn sie damit riskieren, ins Gefängnis zu kommen und ihre Kinder in staatliche „Obhut“ kommen und dort mit Sicherheit ideologisch umerzogen werden?

Man darf also auf keine Revolution in Russland hoffen?
Die Ukraine muss wohl so lange durchhalten, solange Putin an der Macht ist. Aber es wird eine Zeit nach ihm geben. Wie diese Ära enden wird, lässt sich nicht vorhersagen. Aber oft „passiert“ Geschichte schneller als erwartet.

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