„Mercury - Act 2“

Imagine Dragons: Melancholische Selbsttherapie

Musik
05.07.2022 06:00

Einen Tag nach ihrem gefeierten Konzert im Wiener Ernst-Happel-Stadion stellten die Imagine Dragons ihr neues Album „Mercury - Act 2“ weltexklusiv im Gartenbaukino vor. Die Band stand ein paar handverlesenen Fans Rede und Antwort über ein Werk, das die Grenzen von Schwere und psychischem Schmerz neu auslotet. Ein künstlerisch mutiges, kommerziell aber fragwürdiges Album des Quartetts aus Las Vegas.

(Bild: kmm)

Schon im Direktvergleich der beiden Artwork-Motive sieht man, dass die Lebensfreude bei den Imagine Dragons langsam wieder zurückkehrt. Weist das im September 2021 veröffentlichte Album „Mercury - Act 1“ noch einen fallenden Menschen auf, steigt dieser auf dem brandneuen Album „Mercury - Act 2“ stolz empor. Was aber beiden Werken gemein ist: die großen Hits der alten Tage sind vorerst nicht zu finden. Bei einem ganz besonderen, global gestreamten Event stand die gesamte Band einen Tag nach ihrem Happel-Stadion-Auftritt vor 40.000 Fans im Wiener Gartenbaukino ein paar wenigen Fans Rede und Antwort. Gut eine Stunde lang nahm man sich schon eine Woche vor dem Album-Release die nötige Zeit, um tief in die Materie einzugehen und ein paar hochnervöse Fans mit Umarmungen und netten Worten zu trösten. Imagine Dragons bedeuten schließlich eher Inklusion, denn Rock’n’Roll.

Harte Zeiten durchlebt
Die Amerikaner sind eine der wenigen jungen Rockbands in Stadiongröße und haben auf ihr Publikum eine fast schon therapeutische Wirkung. „Love Yourself“-Botschaften übertönen das bloße Konzertgeschehen, die Events ähneln oftmals allumfassenden Predigten und Muskelpaket Reynolds ist hinter seinem wuchtigen Äußeren ein Sensibelchen aus einer Großfamilie mit Großfamilie, in der es unzählige Krisen hagelt. Vom Beinahe-Untergang seiner Ehe erzählen beide Parts des „Mercury Act“. „Ferris Wheel“ und das fulminant eingängige „Waves“ sind derartige Paradestücke, aber auch Selbstzweifel wie etwa in „I Don’t Like Myself“ und „Higher Ground“ sind dem 35-Jährigen nicht fremd. Wer Reynolds beim Frequency 2018, mitten in seiner größten Ehekrise, als menschlichen Adonis in Badehose über die Bühne tanzend beobachtete, zweifelte an seinem Verstand. Rückblickend gibt Reynolds gerne zu, sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden und schlussendlich professionelle Hilfe gesucht zu haben.

Diese Offenheit sich, seiner Familie und Freunden, aber auch seinen Fans gegenüber macht ihn zu einer Art Nick Cave für die Generation Z. Wo der Hohepriester der Düstermusik Fragen in seinen Online-„Red Hand Files“ beantwortet, geht Reynolds auf Tuchfühlung mit der jüngeren Generationen, denen Unsicherheiten, Mobbing und eine gewisse Orientierungslosigkeit nicht fremd sind. Die Imagine Dragons sind ihre Kirche und Reynolds der unfehlbare Anführer, der seinen eigenen Schmerz bereitwillig mit seinen Jüngern teilt, um zu einer kollektiven, humanen Absolution zu kommen. Viele Songs auf „Mercury - Act 2“ schrammen musikalisch nicht nur an der Kitschgrenze vorbei, sondern springen mit Freude in den tiefen Sumpf der pathetischen Übertreibung. Aber man kann man es jemandem übelnehmen, der Ehe und Familie auf den letzten Metern zu retten wusste und dazu noch seinen besten Freund an Suizid und einen Manager an Krebs verloren hat?

Aufgeworfene Fragen
„Beide Alben drehen sich um den Tod und den Verlust geliebter Menschen“, erzählt uns Reynolds im „Krone“-Interview einen Tag vor dem Auftritt im Happel-Stadion, „ich musste in den letzten Jahren sehr viel mitmachen und habe mich daher auf ,Mercury - Act 1‘ mit den verschiedenen Formen der Trauer befasst. Der zweite Teil dreht sich vermehrt darum, was danach passiert. Egal, wie viele Menschen man im Laufe seines Daseins verliert, das Leben geht immer weiter. Wir müssen Wege finden, persönliche Tragödien zu verarbeiten und wieder in die Spur zu finden.“ „Mercury - Act 2“ ist eine fast einstündige, musikalisch, wie auch lyrische Tour de Force. Man kann Reynolds nicht nur stimmlich beim Leiden begleiten, Songs wie „Sirens“ oder „Blur“ gehen an die Schmerzgrenze des Erlebten. „Für mich wirft das zweite Album Fragen auf“, ergänzt Reynolds, „wie machst du weiter? Wir wird dein Leben künftig aussehen? Was hast du jetzt vor und wie kannst du es trotz alledem bestmöglich genießen?“

Die Songs stecken trotz allem voller Selbstzweifel, Entschuldigungen und Reflektionen. Nur selten brechen die Imagine Dragons ihre Gruppentherapie auf, um auch einmal etwas humoristischer ans Werk zu gehen. Das passiert etwa auf „Sharks“, einer kurzweiligen Ode an ihre Heimatstadt Las Vegas oder dem humoristischen „Bones“, dessen Video dem kultigen Michael-Jackson-Song „Thriller“ nachempfunden ist und die dunklen Seiten des Lebens von einer helleren betrachtet. „Wir sollten so viel tanzen und feiern, wie es uns möglich ist, denn das Leben ist kurz“, so der Sänger, „wenn du jung bist, ist der Tod keine Option. Du fühlst dich unverwundbar und unbesiegbar, aber mit zunehmendem Alter verlierst du die Menschen um dich herum und bist mit dem Thema konfrontiert. Du kannst dich ihm nicht mehr entziehen, aber manchmal muss man, so schwierig es auch ist, über die schlimmen und harten Dinge im Leben auch lachen können.“

Ventil für den Schmerz
Einen gewichtigen Anteil an der allgemeinen Schwere hatte Star-Produzent Rick Rubin. Der erinnerte Reynolds beim Songwritingprozess unweigerlich daran, dass es seine Aufgabe sei, sich nicht zu wiederholen und die schönen Seiten des Lebens ständig neu zu interpretieren, sondern auch dem Schmerz ein Ventil zu geben und sich dabei ständig weiterzuentwickeln. Das bringt den Imagine Dragons auf dem Doppelschlag „Mercury Act“ eine sehr düstere und erwachsene Farbe, doch die geht unweigerlich zulasten der Hit-Tauglichkeit seiner Vorgänger. Der Grat zwischen künstlerisch und kommerziell wertvoll ist meist ein schmaler und nur die allerwenigsten Künstler schaffen es, mühelos darauf zu balancieren. „Mercury - Act 2“ ist eine tiefgründige und bleischwere Psychoanalyse eines Mittdreißigers in einer mannigfaltigen Krisensituation. Zweifellos ein wichtiger Befreiungsschlag für das persönliche Seelenheil, aber um dauerhaft eine Stadionband zu bleiben, sollte das Quartett in Zukunft wieder andere Ufer ansteuern.

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele