Live in der Arena

Einstürzende Neubauten: Düsteres im Wiener Altbau

Wien
15.06.2022 06:00

Nur alle heiligen Zeiten finden die Berliner Experimental-Heroen Einstürzende Neubauten ihren Weg in österreichische Gefilde. Vor dem ausverkauften Open-Air-Gelände der Wiener Arena feierten Blixa Bargeld und Co. mit zwei Jahren Verspätung 40 Jahre Band und Romantik des Düsteren. Dass es eben kein Best-Of-Set war, hielt den Abend frisch und spannend.

In der schier endlosen Dunkelromantik des Frühlingsabends setzt Blixa Bargeld im ersten Zugabenteil des Sets seiner Einstürzenden Neubauten zum intensiven Gesang ein, nachdem Alexander Hacke und Co. das elegische Glanzstück „Sabrina“ vor blutrotem Hintergrund instrumental eröffneten. „If not’s the red of which we bleed“ intoniert er inbrünstig, als plötzlich der ÖAMTC-Hubschrauber aus dem benachbarten Hauptquartier abhebt und die Stringenz des Abends für einen flüchtigen Moment unterbricht. Wo anderswo ob des Helikopter-Starts unweigerlich Leid herrscht, strahlt bei den rund 3.200 Neubauten-Fans am ausverkauften Open-Air-Gelände der Wiener Arena ein kurzer Freudenschimmer über die Gesichter. Auch Zeremonienmeister Blixa kann sich der Ironie des Moments nicht entziehen und die Band muss den Track improvisiert noch einmal beginnen.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Reife Wandlung
Solch zwanglose Glücksmomente sind selten im Kosmos der Berliner, immerhin bauen sie ihr Tagwerk seit 42 Jahren auf Zerstörung, Apokalypse und Dystopien auf. Was als zufällig zusammengepfuschtes Noise-Kollektiv begann, hat sich über die Dekaden zu einem feinsinnigen Mahlstrom aus lyrischem Intellekt, klanglicher Melancholie und atemberaubender Präsenz entwickelt. Dazwischen würgte Blixa Bargeld fast 30 Jahre lang die Gitarre für Nick Cave, den sektiererischen Hohepriester demütiger Alternative-Jünglinge. Natürlich lässt man es sich nach wie vor nicht nehmen, auf Fässern herumzutrommeln, durch Rohre zu blasen oder vor dem Mikro mit Taschen zu knirschen, aber der unaufhaltsame Weltuntergang hat sich längst vom Krach-Derivat zur edlen Rotwein-Klangschale entwickelt.

(Bild: Andreas Graf)

Die „The Year Of The Tiger“-Tour hätte strenggenommen schon vor zwei Jahren stattfinden sollen. Alles hätte so gut gepasst. Die Neubauten feierten ihren 40. Bandgeburtstag und erfreuten mit einem völlig überraschenden Studioalbum namens „Alles in Allem“ Kritiker und Fans. Das teuflische Virus verhinderte gemeinsame Abende und brachte Angst ins Bandcamp. Blixa Bargeld verzichtet noch heute auf fast alle persönlichen Interviews, im Backstage der Band muss allumfassend Maske getragen werden. Unter dem gleißenden Bühnenlicht versteckt sich nur noch Perkussionist N. U. Unruh hinter der Gesichtsschürze, bei Blixa blinkt Glitzer von den Augen, die grau melierten langen Haare über dem schwarzen Sakko vermitteln der ansonsten so durchgespielten Szenerie etwas angenehm Schmuddeliges.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Düstere Berlin-Liebe
Ein Best-Of-Set ist an diesem Abend nicht drinnen. Obwohl die Neubauten äußerst selten durch die Lande ziehen, verspüren sie wenig Lust, als freudebringende Unterhaltungsmaschinerie herzuhalten. Vor allem dann nicht, wenn man ein starkes neues Album im Rücken hat. So wird „Alles in Allem“ auch zur Gänze zelebriert, nur eben nicht nach Songreihenfolge, sondern frei interpretiert und für den Live-Spannungsbogen zuträglicher. „Am Grazer Damm“ erzählt von Blixas Heimat als Kind, „Zivilisatorisches Missgeschick“ ist eine mehrteilige Ode an den Untergang und „Seven Screws“ ein Beweisstück dafür, dass sich auch alte weiße Männer ernsthaft und mit Respekt dem Gender-Thema nähern können. „Alles in Allem“ ist die vielleicht präziseste und in ihrer düsteren Eigenheit liebevollste Betrachtung Berlins und funktioniert auch in Wien einwandfrei.

(Bild: Andreas Graf)

Überhaupt hat das Sextett wenig Lust auf falsche Nostalgie. Selbst die ältesten Songs wurden nach dem Millennium veröffentlicht, wer auf Preziosen der abgedrehten 80er-Jahre wartet, muss sich wohl mindestens weitere sieben bis neun Jahre gedulden. Es ist dem ursprünglichen Punk-Ethos der West-Berliner geschuldet, dass man sich auch im gesetzteren Alter einen Dreck um Konventionen und Marktstrategien schert. Man stellt lieber das Artifizielle ins Rampenlicht und lässt sich nicht vom schnellen Glanz des Monetären verblenden. Wenn man schon zurückblickt, wie etwa mit dem erstmals seit 1987 auf die Bühne gerollten Einkaufswagen samt Verstärker, dann geschieht das mit einer humoristischen und ganz gar und zeitgemäßen Nonchalance.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Gelungenes Wechselspiel
Passenderweise leuchtet auch noch der Supermond vom Himmel und gibt dem bunten Treiben einen fast schon mythischen Touch. Zwischen den neuen Songs schummeln sich grazil Bekannteres wie das lebensverneinende „How Did I Die?“ oder die immergültige Standortbestimmung „Die Befindlichkeit des Landes“. Dass mitten im Set ein Bierbecher auf die Bühne fliegt ist natürlich unnötig und grenzdebil, aber auch einer der ganz wenigen Schönheitsfehler an diesem monddurchfluteten Abend der dystopischen Gemeinsamkeit. In den geschichtsträchtigen Altbauten der Arena spielen sich die Einstürzenden Neubauten in ein Form-Crescendo, das keinen Raum für flüchtige Freude und simples Mitschunkeln duldet. Doch nur wer Anspruch einfordert, wird mit echter Konzentration belohnt. Das Wechselspiel ist wunderbar aufgegangen.

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