Wegen Drogensucht

„Musste zusehen, wie sich meine Tochter zerstört“

Tirol
08.05.2022 08:45

13 Jahre lang war die Tirolerin Melissa (Name von der Redaktion geändert) schwer drogenabhängig. Sie versuchte mehrfach, clean zu werden - doch die Sucht war stärker. Im Jänner dieses Jahres verlor sie den harten Kampf, sie starb mit 29 Jahren. Ihre Mutter schildert im Gespräch mit der „Krone“ den Leidensweg ihres einzigen Kindes.

Der Schock sitzt tief, der Tod ihrer Tochter ist gerade einmal vier Monate her. „Es ist unendlich traurig“, sagt die Tirolerin mit Tränen in den Augen, „ich habe alles versucht, um mein Kind zu retten – vergebens. Ich mache mir schwere Vorwürfe.“ Sie ist davon überzeugt, dass man ihre Tochter hätte retten können – „wenn wir ein anderes Gesetz in Österreich hätten“, betont sie.

„Sie blieb plötzlich von der Schule fern“
Melissa war immer eine sehr gute Schülerin mit guten Noten. Sie begann eine Lehre zur Malerin, besuchte die Berufsschule. „Im zweiten Lehrjahr bemerkte ich, dass sie sich veränderte. Sie war noch ruhiger als sonst immer, hat nicht mehr so herzlich gelacht wie vorher und sie war immer müde. Als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie, dass sie einfach nur gestresst sei“, erinnert sich die Tirolerin. Dann habe sich herausgestellt, dass sie oft von der Schule fern blieb und sich in Innsbruck aufhielt. „Plötzlich gab sie sich mit Menschen ab, die ich nicht kannte. Ihre Schulfreundinnen distanzierten sich von ihr. Eine von ihnen meinte zu mir, dass sich Melissa in Kreisen bewege, in denen Kokain konsumiert werde“, schildert die Mutter. Das habe sie stets alles abgestritten.

„Sechs Zentimeter große Löcher in Waden gebrannt“
Von heute auf morgen habe die damals 16-Jährige nur mehr lange Kleidung getragen – auch im Sommer. „Es stellte sich heraus, dass sie sich an Armen und Füßen mit einem Messer selbst verletzte. Sie brannte sich auch mit einem Feuerzeug rund sechs Zentimeter große Löcher in die Waden. Der Arzt diagnostizierte eine Depression, sie erhielt Medikamente. Doch zu diesem Zeitpunkt war meine Tochter bereits medikamentensüchtig. Schließlich landete sie im Krankenhaus. Dort hieß es seitens der Mediziner, dass sie meiner Tochter gesetzlich nur dann helfen können, wenn sie das auch wolle – sie wollte aber nicht“, weiß die Tirolerin.

Mit 20 Jahren brachte sie einen Sohn zur Welt
Dann lernte Melissa einen Mann kennen, sie verliebte sich in ihn, wurde schwanger und brachte mit 20 Jahren einen Sohn zur Welt. „Alles hat sich super entwickelt, sie ging mit dem Kind sehr gut um, war eine gute Mutter. Doch der Schein trügte“, gibt ihre Mutter preis. Rund ein Jahr später habe ihre Tochter erneut vor allem Schmerzmittel genommen. „Es ging so weit, dass sie Sachen bestellte, die sie nicht bezahlte, sondern weiterverscherbelte, um an Geld zu kommen. Sie kam in Haft, ihr Sohn in eine Pflegefamilie“, sagt die Tirolerin.

„Sie löste Morphium-Tabletten auf, um sie sich zu spritzen“
Nach einem dreiviertel Jahr wurde sie entlassen. „Mein Lebensgefährte und ich haben sie aufgenommen und ihr dann um eine Unterkunft geschaut. Nach rund einer Woche rief sie mich aus dem Krankenhaus an und bat mich, ihr ein paar Sachen vorbeizubringen“, erläutert die Mutter. Sie sei in die Unterkunft gegangen und habe in einer Schublade Spritzbesteck entdeckt. Zuerst habe Melissa alles abgestritten. „Dann gab sie zu, dass ihr ein Bekannter geraten hatte, Morphium-Tabletten aufzulösen und sich zu spritzen. Das hat sie langfristig getan.“ Es folgte die Aufnahme in ein Methadonprogramm – eine Therapieform für langjährige Süchtige. Doch das habe nichts geholfen, vor der Apotheke haben die Patienten die Tabletten beziehungsweise Geld hin- und hergetauscht, wie die Mutter beobachtete.

„Ist dieses Verhalten denn nicht selbstgefährdend?“
Immer wieder habe Melissa eine Therapie begonnen, immer wieder habe sie diese abgebrochen, immer wieder habe sie Rückfälle erlitten. „Es war jahrelang ein Auf und Ab zwischen der Hoffnung, dass sie endlich clean wird, und der Angst, dass wir sie verlieren. Die Ärzte haben sie stets entlassen, wenn sie nicht mehr wollte. Es müsse eine Eigen- bzw. Fremdgefährdung vorliegen, damit sie sie stationär weiterhin betreuen hätten können – das ist jedoch nie der Fall gewesen“, erzählt die Tirolerin, „doch wie kann das sein? Meine Tochter agierte wie ein Roboter. Sie saß am Tisch, hatte eine Zigarette in der Hand und lallte bei geschlossenen Augen einfach so dahin. Sie konnte sich die einfachsten Sachen nicht mehr zusammenreimen, stellte binnen fünf Minuten zehnmal dieselbe Frage, verletzte sich selbst. Sie schaltete den Backofen nicht aus, rannte splitterfasernackt durch die Siedlung. Gilt dieses Verhalten denn nicht als selbstgefährdend? Wäre sie zu einer Langzeittherapie verpflichtet worden, hätte sie gute Chancen gehabt, zu überleben.“

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Meine Tochter agierte wie ein Roboter. Sie saß am Tisch, hatte eine Zigarette in der Hand und lallte bei geschlossenen Augen einfach so dahin.

Die Mutter der verstorbenen Tirolerin

„Sie sagte, dass sie nicht mehr könne und auch nicht mehr wolle“
Die Mutter habe unzählige Male das Gespräch mit ihrer Tochter gesucht. Sie habe ihr stets gesagt, dass sie sie unterstützen werde – so auch im Juni 2021. „Doch sie sagte, dass sie nicht mehr könne und auch nicht mehr wolle. Das zog mir den Boden unter den Füßen weg.“ Melissa wurde das Reha-Geld gestrichen, sie erhielt Pensionsgeld. „Das ärgerte mich extrem, weil ich wusste, dass sie nun überhaupt nicht mehr gefordert war, eine Therapie zu machen. Ich reduzierte den Kontakt zu ihr aufs Nötigste, sie vegetierte regelrecht dahin.“

Schmuckurne mit Asche von Tochter als Erinnerung
In der Nacht von 13. auf den 14. Jänner dieses Jahres habe die Mutter in der Nacht nicht schlafen können. „Ich war unruhig, hatte ein ungutes Gefühl und wusste nicht, woran das lag. Auch meiner Mama ging es in dieser Nacht gleich“, sagt sie. Am 14. Jänner habe es am Nachmittag an der Wohnung geklingelt. „Zwei Polizisten und zwei Einsatzkräfte vom Samariterbund standen vor der Tür. Sie sagten mir, dass meine Tochter gestorben sei. Sie sei in ihrer Wohnung leblos aufgefunden worden, sie lag mit einer Decke zugedeckt auf der Couch. Im Zuge der Obduktion stellte sich heraus, dass sie im Schlaf an ihrem Erbrochenen erstickt ist“, schildert die Mama.

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Ich rechnete seit Jahren mit dieser furchtbaren Nachricht, dass sie dann aber doch so plötzlich kam, war mir unbegreiflich.

Die Mutter der verstorbenen Tirolerin

„Das war ein Schlag ins Gesicht. Ich rechnete seit Jahren mit dieser furchtbaren Nachricht, dass sie dann aber doch so plötzlich kam, war mir unbegreiflich.“ Das Schlimme daran: „Ich durfte meine Tochter nicht mehr sehen – weder vor noch nach der Obduktion und konnte mich somit nicht von ihr verabschieden. Das verfolgt mich bis heute.“ Das Einzige, das ihr von ihrer Tochter geblieben sei, sei eine kleine Schmuckurne mit ein wenig Asche von ihr im Inneren.

Nach der Todesnachricht habe sie die Wohnung ihrer Tochter ausgeräumt. „Überall lagen Spritzen herum, alles war versifft und kaputt, die Wände waren blutverschmiert. Meine Tochter war immer ordentlich. Doch durch die Drogen hat sie nicht mehr gelebt, sondern nur mehr gehaust. Das hat sie nicht mehr realisiert.“

„Genügend andere gilt es noch zu schützen“
Es heiße immer, dass man seine Kinder schützen solle. „Doch wie soll man das machen, wenn einem die Hände gebunden sind? Verursacht ein Pkw-Lenker einen Unfall, hat er sofort eine Anzeige wegen Verletzung der Aufsichtspflicht picken. Ein drogenabhängiges, minderjähriges Kind darf hingegen selbst entscheiden, ob es therapiert werden will oder nicht. Ich musste Tag für Tag zusehen, wie sich meine Tochter selbst zerstört. Ich kann mein Mädchen nicht mehr zurückholen, aber es sind noch genügend andere in derselben Lage am Leben, die es unbedingt zu schützen gilt. Es muss sich rasch etwas ändern.“

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