Haft in Den Haag

Ausgelieferter Mladic bekommt Zelle mit Seeluft

Ausland
01.06.2011 07:57
Er wollte ein großserbisches Reich schaffen - und ging dafür über Leichen. Nach seiner Auslieferung am Dienstagabend kann Ratko Mladic nun endlich der Prozess gemacht werden. Die U-Haft wird der Kriegsverbrecher im Haager UNO-Gefängnis verbringen - und von seiner Zelle aus Seeluft schnuppern. Genau so wie seine prominenten Mithäftlinge, denen ähnlich grausame Taten zur Last gelegt werden.

Manchmal hören sie Möwen schreien. Und manchmal können die Häftlinge im Untersuchungsgefängnis der Vereinten Nationen im Haager Strandvorort Scheveningen die Nordsee riechen. Männer wie Charles Taylor sitzen hier ein, der Ex-Machthaber Liberias und "Herr der Blutdiamanten". Auch Radovan Karadzic. Der einstige Führer der bosnischen Serben muss sich für den Völkermord von Srebrenica verantworten. Genau wie der Neuzugang, jener Mann, den Karadzic bis heute als serbischen Helden bewundert und den andere als "Schlächter vom Balkan" verabscheuen: der einstige General Ratko Mladic.

So viele Jahre war der bullige Ex-Militärchef der Serben auf der Flucht, dass selbst in Kreisen des UNO-Kriegsverbrecher-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien, das ICTY, die Hoffnungen auf seine Festnahme stark gesunken waren. Die bisherige Strategie Serbiens zur Verhaftung des Flüchtigen sei "vollständig erfolglos", formulierte ICTY-Chefankläger Serge Brammertz voller Frust im Entwurf seines jüngsten Jahresberichtes, den er Anfang Juni vor dem UNO-Sicherheitsrat in New York erstatten wollte. Der aus Belgien stammende Staatsanwalt mahnte ein "neues rigoroses Vorgehen" der serbischen Justiz ein. Und er ließ keine Möglichkeit verstreichen, mehr oder weniger deutlich darauf hinzuweisen, dass von Belgrads Kooperation bei der Suche nach Mladic Serbiens Fortschritte in Richtung einer EU-Mitgliedschaft abhängen würden.

Widerspruch gegen Auslieferung abgelehnt
Nun muss Brammertz seinen Report völlig umschreiben. "Im Namen der Republik Serbien teile ich mit, dass Ratko Mladic verhaftet wurde", erklärte Staatspräsident Boris Tadic am Donnerstag vergangener Woche in Belgrad. "Der Prozess der Auslieferung läuft bereits mit seiner Festnahme", sagte Tadic. Am Dienstag traf der prominente Häftling dann in den Niederlanden ein. Sein Widerspruch gegen den Auslieferungbeschluss war kurz zuvor abgelehnt worden.

Vor fast 16 Jahren war der damalige General vor dem ICTY in Abwesenheit wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zahlreicher Kriegsverbrechen angeklagt worden. Das UNO-Tribunal will ihn vor allem für die Ermordung von rund 7.800 muslimischen Knaben und Männern im bosnischen Srebrenica im Juli 1995 zur Verantwortung ziehen, aber auch für die jahrelange Belagerung von Sarajevo mit Tausenden Toten, für unmenschliche Straflager und die Vertreibung Hunderttausender während des Bürgerkrieges im einstigen Jugoslawien 1992 bis 1995.

"Nun ist Karadzic doch nicht unser letzter Prozess"
In dem Gerichtshof am Churchillplein 1 in Den Haag herrschte nun angesichts der sich überschlagenden Ereignisse Hochstimmung. "Jetzt wird der Karadzic-Prozess doch nicht unser letzter sein", hört man an diesem Tag immer wieder. Eigentlich sollte der 1993 auf Beschluss des UNO-Sicherheitsrates geschaffene Sondergerichtshof bis 2010 die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen auf dem Balkan abgeschlossen haben. Mehr als 160 Verdächtige wurden angeklagt. Mehr als 60 wurden verurteilt, andere wurden freigelassen, rund 40 Verfahren stehen in absehbarer Zeit vor dem Abschluss.

Mehrfach wurde das Mandat für den zig Millionen Euro teuren Gerichtshof verlängert. Doch wenn Mladic nicht festgenommen worden wäre, hätten sich wohl viele Angestellte des ICTY in ein, zwei Jahren neue Jobs suchen müssen. Nun aber werden wieder sämtliche Kapazitäten des ICTY gebraucht. Wie lange sich große Kriegsverbrecherprozesse hinziehen können - zumal wenn es um den besonders schweren Vorwurf des Völkermords geht -, zeigte das Verfahren gegen den einstigen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic. Zu einem Urteil kam es nicht, da der Angeklagte 2006 in eben jenem Gefängnis in Scheveningen an Herzversagen starb, das nun auch Mladic von innen kennenlernt.

Urteil gegen Mladic erst im Jahr 2016?
Beispielhaft für sein Verfahren ist der Prozess gegen Karadzic. Der ebenfalls jahrelang flüchtige Ex-Serbenführer in Bosnien wurde im Juli 2008 festgenommen - verkleidet mit langem Bart als "Alternativmediziner". Erst im Oktober 2009 konnte der Prozess eröffnet werden, obwohl - wie auch bei Mladic - die umfangreiche Anklage längst vorlag. Am 1. März 2010 äußerte sich Karadzic erstmals vor dem ICTY und wies jede Schuld von sich. "Alles, was wir Serben getan haben, war, uns zu verteidigen."

Fast täglich wird im Fall Karadzic verhandelt. Immer wieder kommt der Angeklagte mit neuen Beweisanträgen, es gibt Kreuzverhöre von Zeugen, Verfahrensbeschwerden, unzählige Dokumente müssen ins Serbokroatische übersetzt werden. Mit einem Urteilsspruch rechnen Juristen kaum vor Ende 2012, einschließlich der dann erwarteten Revisionsverhandlung dürfte das letzte Wort 2013 gesprochen werden. Nimmt man das Karadzic-Verfahren als Maßstab, dann wäre ein endgültiges Urteil über den mutmaßlichen "Schlächter vom Balkan" etwa 2016 zu erwarten.

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