Aufwachsen im Heim:

„Man ist jahrelang im Überlebensmodus“

Österreich
14.02.2022 16:48

Für viele von uns war die Kindheit die schönste Zeit im Leben. Kaum Verantwortung, alle Zeit der Welt, voller Energie und Tatendrang und vor allem: gut behütet und beschützt. Für Sascha Rodleitner und für rund 12.000 andere Kinder in Österreich nicht. Sie sind in Fremdbetreuung aufgewachsen, weil ihre Eltern etwa psychisch krank oder gewalttätig waren. Das alleine ist schon ein schweres Schicksal; das System macht es diesen Kindern nicht unbedingt leichter. Am 18. Februar, dem Care Day, werden diese Kinder gefeiert.

„Den ersten Kontakt mit Fremdbetreuung hatte ich mit drei Jahren. Damals bin ich gemeinsam mit meinem Bruder zuerst in ein Krisenzentrum, dann in eine Wohngemeinschaft gekommen“, erinnert sich Rodleitner. Die erste Erinnerung war „das Gefühl, aus dem gewohnten Umfeld weggerissen worden zu sein“ und alleine an Orten und mit Menschen zu sein, die man nicht kennt: „Anfangs waren die Angst und das Alleinsein große Herausforderungen.“

„Positive Emotionen können überfordern“
Jene 60% der Kinder in Fremdbetreuung, die nicht bei einer Pflegefamilie leben, leben in sozialpädagogischen Einrichtungen. Hier sind zwei bis drei Betreuer für neun bis 12 Kinder und Jugendliche zuständig. „Es ist nicht die Familie, wo man eingespielt ist und sich kennt, sondern man ist zusammengewürfelt. 13-Jährige kommen mit 8-Jährigen vielleicht nicht so gut zurecht. Je nach Gruppe hat das dann manchmal auch eine ungute Dynamik“, erzählt Rodleitner. „Da kann es schwierig sein, auch schöne Momente zu haben. Und wenn man einmal einen schönen Tag hatte, war das für manche Kinder so bewegend, dass sie am Abend dann ausgerastet sind - wir haben es ‘Auszucker‘ genannt. Das haben sie dann als Ventil gebraucht. Wenn man so viel Schlechtes und so viel Negatives, Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung erlebt hat, dann sind positive Emotionen nicht immer gut zu verarbeiten. Das kann überfordern.“

„Jahrelang im Überlebensmodus“
Es bräuchte mehr Einzelbetreuung, sagt Rodleitner, damit die Kinder ihre Schicksale aufarbeiten können: „Aufgrund der traumatischen Biografien wäre es viel besser, wenn die Gruppengröße kleiner wäre. Mehr Personal würde mehr Zeit für jedes einzelne Kind bedeuten. Mehr Bindung, mehr Beziehung, mehr individuelle Unterstützung.“ Es sind schwere Rucksäcke, die diese Kinder tragen: „Man ist gar nicht in der Lage, daran zu arbeiten, weil man jahrelang im Überlebensmodus ist.“ Besonders kritisch ist, dass die Betreuung mit dem 18. Geburtstag endet, weiß der Sozialpädagoge Peter Sarto. Es fehle der politische Wille, sagt er. „Alle Menschen, die nur einmal darüber nachgedacht haben, wissen, dass man mit 18 nicht fertig sein kann.“

Viele rutschen ab
Rodleitners Geschichte hat ein Happy End. Er hat Matura gemacht, ein FH-Studium absolviert, ist nun Krankenpfleger und steht mitten im Leben. Unter den Kindern, die mit ihm aufgewachsen sind, ist er damit die Ausnahme: „Oft sind Drogen ein Problem, Gewalt oder Alkohol. Einige waren im Jugendgefängnis - da war das Zimmer dann leer und der Jugendliche einfach nicht da. Da habe ich gemerkt: Das möchte ich für mich nicht. Und da habe ich mich aus der Gruppe herausgenommen.“

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