Interview & Album

Dream Theater: „Ein Album ist eine Sozialstudie“

Musik
22.10.2021 06:00

Prog-Adel verpflichtet. Dream Theater bleiben auch mit ihrem neuen Album „A View From The Top Of The World“ an der Genrespitze, dafür sorgen einmal mehr die eklektischen Songs, die Mischung aus bretthartem Metal und feinen Melodien und die musikalische Genialität der einzelnen Mitstreiter. Frontmann James LaBrie erzählt uns im Gespräch, wie das Aufnehmen während Corona vonstattenging, warum er sich vom Weltall magisch angezogen fühlt und wie die Band trotz aller Querelen seit mehr als 30 Jahren für Furore sorgt.

(Bild: kmm)

„Krone“: James, euer neues Album „A View From The Top Of The World“ ist das erste Album, das in eurem bandeigenen Studio, den Dream Theater Headquarters, aufgenommen wurde. Wie wurde das Album dadurch geprägt?
James LaBrie: Es ist sehr viel angenehmer, wenn man sich im eigenen Bereich austoben kann. Wir haben unser Equipment dort und alles so eingerichtet, wie wir es für gut befinden. Wir können dort hingehen wann immer wir wollen und müssen uns nie darum sorgen, dass der nächste Anwärter vor der Tür steht und die Uhr tickt. Die Headquarters sind unser zweites Daheim. Wir haben eine schöne große Lounge zum Abhängen, einen großen Meeting-Raum und natürlich einen Bereich, wo wir schreiben und aufnehmen können. Auch für die Techniker und Produzenten gibt es ausreichend Platz. Wir haben dort schon vor der „Distance Over Time“-Tour geprobt und das Studio seit ein paar Jahren im Betrieb. Wir sind dort extrem produktiv und genießen die Freiheiten, die uns dieses Headquarter gewährt.

Für dich war das Ganze gar nicht so leicht zu bewerkstelligen. Du lebst in Kanada und wurdest anfangs via Zoom zu den Jungs zugeschalten. Dann hat man dich für die Gesangsaufnahmen nach New York eingeflogen, wo du aber einige Tage in Quarantäne musstest.
Es war nicht leicht. Die Regeln für internationale Flüge waren unglaublich strikt. Ich wurde getestet, bevor ich das Flugzeug bestieg, dann sofort wieder nach der Landung in New York. Nach der Quarantäne wurde ich in New York getestet, dann nochmal vor dem Rückflug, wieder bei der Landung und daheim in Kanada zehn Tage später erneut. Aber gut, das musste eben so sein. Die Ironie ist, dass ich das erste Mal seit „Black Clouds & Silver Linings“ 2009 mit John Petrucci die Gesangsspuren gemeinsam aufnahm. In meinem Keller in Kanada habe ich auch ein kleines Studio und dort habe ich mein letztes Soloalbum aufgenommen, das gerade gemixt wird. Seit diesem Album 2009 habe ich meine Gesangsspuren immer alleine in Kanada eingesungen, aber gerade jetzt, während der Pandemie, flog ich dafür nach New York. Aber es war eine nette Abwechslung und wir hatten sehr viel Spaß. Wenn man sich physisch im selben Raum befindet, entwickelt sich eine ganz andere Energie. Es war ein bisschen so wie früher in den alten Tagen.

Das Album klingt, als wolltet ihr eure stärksten Phasen der Vergangenheit mit einer zeitgemäßen musikalischen Prog-Metal-Ausrichtung verknüpfen. War es das dezidierte Ziel, diese zwei Welten klanglich zu verbinden?
Das ist das Ziel jedes Dream-Theater-Albums. In erster Linie wollen wir das ausdrücken, was uns selbst inspiriert. Wir wollen immer zeitgemäß und aktuell klingen. Unsere Musik muss den Vibe der Gegenwart spüren, ohne die klassischen Zitate dieser Band zu verleugnen. Wir vermischen unsere Riff- und Melodieideen und kreieren daraus die Songs. Es hört nie auf mich zu faszinieren, welche Magie sich entfacht, wenn wir gemeinsam im Studio stehen und die Melodien und Songs kreieren. Alles passiert auf wundersame Weise wie auf Schiene. Wir wussten schnell, wohin wir mit dem Album wollten. Der progressive Ansatz und die Metal-Anleihen sind wichtig, aber schon vor der ersten Note wussten wir, dass das Album episch werden sollte. Einen richtig großen und abendfüllenden Song haben wir schon lange nicht mehr gefertigt und diese Idee stand schon, bevor wir den ersten Akkord angespielt haben. Es ist uns auf jedem Album ein Anliegen, dass die klassischen Dream-Theater-Elemente sich verknüpfen. Das können rockige, metallische oder progressive Momente sein - wir waren immer eklektisch. Aber die Balance stimmt und man erkennt uns immer sofort heraus.

Ist es manchmal eine schmale Gratwanderung, sich musikalisch und kreativ selbst zufriedenzustellen und gleichzeitig etwas zu erzeugen, mit dem die Fans glücklich sein werden?
Das soll nicht egoistisch und eigensinnig klingen, aber in erster Linie müssen wir ausschließlich uns selbst zufriedenstellen. Wir müssen fühlen, dass wir die Essenz unserer Persönlichkeiten finden und erst wenn das erreicht ist, überlegen wir uns, wie wir uns und unsere Musik für andere Menschen repräsentieren können. Wir diskutieren endlos lang darüber, wie wir klingen sollen, ob wir uns selbst perfekt in den Songs abbilden oder ob wir manchmal unseren Weg zu stark verlassen. Wir machen es uns nicht leicht. Das Schöne an einer Band wie Dream Theater ist, dass man immer das Unerwartete erwarten muss. Wir können unsere Fans zum Glück nie komplett enttäuschen, weil sie ohnehin nicht wissen, was auf sie zukommt. Sie wissen aber sehr gut, dass auf jedem Album etwas ist, mit dem sie sich identifizieren können. Egal, welche Bereiche ihnen von uns besser gefallen. Unser interner Dialog über die musikalische Ausrichtung läuft seit Tag eins und wird nie enden.

Auf dem Cover-Artwork sieht man den Kjerag, den berühmten Stein, der in der norwegischen Landschaft zwischen zwei Bergen eingebettet ist. Ein beliebtes Fotomotiv bei Touristen. Was soll dieses Bild kombiniert mit eurer Musik vermitteln?
Die Bildsprache ist sehr vieldeutig. Du siehst etwas sehr Majestätisches, Herausforderndes, Spannendes und vielleicht auch Unheilvolles. All diese Elemente und Gefühlspaletten, die wir aus unserem Leben kennen, sind dort vereint. Das wiederum vermischt sich mit den Texten. Textlich versuchen wir stets vermeintlich täuschend vorzugehen, aber dann zwischen den Zeilen doch Botschaften mitzugeben, in denen sich jeder wiederfinden kann. Mit dem Titel „A View From The Top Of The World“ wollen wir nach unten schauen und uns Menschen und vielleicht die ganze Dimension, in der wir uns befinden, betrachten. Menschen suchen nach dem Erfolg, der Aufregung und der Freude im Leben. All diese Gefühle werden am Album angeschnitten. Die Musik selbst entzündet so viele verschiedene Emotionen in uns, wofür wir die Lyrics dazu noch nicht einmal brauchen. Das ist auch der Grund, warum Menschen so intensiv auf Musik reagieren.

Wenn man sich die Songs genauer anschaut, fällt es auf, dass ihr die Pandemie und ihre Auswirkungen inhaltlich möglichst klar vermeiden wolltet.
Absolut. John Petrucci und ich haben viel darüber gesprochen und noch bevor wir den ersten Text geschrieben haben, war uns klar, dass wir die Pandemie und die Gefühle und Sorgen, die sie mit sich bringt, nicht niederschreiben wollen. Natürlich sind wir alle darin gefangen und müssen damit klarkommen, aber es muss auch einmal genug sein. Warum sollte ich darüber singen? Wir brauchen einen Ausbruch aus diesem Drama und sollten uns auf andere Dinge fokussieren, die uns als Menschen ausmachen und für die unser Interesse vorhanden ist. Wir wussten anfangs nicht, was wir schreiben würden, aber es war klar, dass kein Text mit der Pandemie zu tun haben würde. (lacht)

Der Opener „The Alien“ ist aus deiner Feder und setzt sich mit dem Gedanken auseinander, wie Menschen auf einem anderen Planeten als dortige Aliens existieren würden. Wie kam es zu dieser extraterrestrischen Idee?
Ich fuhr gerade mit meinem Sohn auf der Autobahn und er fragte mich, ob ich den Podcast von Joe Rogan kennen würde. Er hatte dort einmal Elon Musk zu Gast und wir haben uns den Podcast auf der Fahrt angehört. Er hat fast drei Stunden gedauert und sie sprachen über interplanetarische Möglichkeiten und ob es einmal realistisch sein würde, dass Menschen auf anderen Planeten leben könnten. Wenn Menschen dort eine ganz neue Welt aufbauen würden, weil der Platz auf dieser wunderschönen Erde einmal nicht mehr ausreicht oder wir sie zerstören. Ich hoffe natürlich inständig, dass wir unseren Planeten nicht ruinieren! Das Gespräch war so spannend, dass ich mir den ganzen Talk gleich noch einmal anhörte und mir Notizen machte. Ich hatte dann die Ideen für einen Text, der zu „The Alien“ wurde. Ich glaube fest daran, dass das eine realistische Zukunftsperspektive der Menschen ist. Wir sind jetzt schon so häufig im Weltraum unterwegs, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist. Es wird viele Versuche geben und viele davon werden scheitern, aber das Thema lässt mich nicht los.

Sprichst du mit „Invisible Monster“ das unsichtbare Monster in uns allen an, das uns daran hindert, Dinge schnell zu erledigen, pünktlich zu sein und einfach immer möglichst perfekt zu funktionieren?
Du hast den Inhalt jetzt sehr gut simplifiziert, ich habe das Thema mit etwas mehr Wörtern ausgedrückt. (lacht) Es ist so einfach, im Leben immer zynischer, pessimistischer und negativer zu werden. Wir verurteilen sehr schnell und verstecken uns hinter einer Hülle, um uns zu schützen, weil wir im Alltag mit schlimmen Dingen und Erlebnissen konfrontiert werden. Mir stellte sich die Frage, ob wir jemanden in uns haben, mit dem wir konstant zu kämpfen haben?

Dreht sich das Album insgesamt darum, wie der Mensch mit sich und seiner Zukunft klarkommen muss?
Egal ob für Dream Theater oder auf meinen Soloalben - ich schreibe gerne über das menschliche Befinden. Wie wir untereinander agieren und kommunizieren und wie wir mit dem Leben umgehen. Ich hasse den Terminus „Klischee“, aber das Leben ist hart und brutal und jeder muss seine eigene Nische in diesem Dasein finden. Man muss mehr Sensibilität und Fröhlichkeit mitbringen. Jeder fragt sich immer, wie man glücklich wird. Ich bin dann glücklich, wenn ich mich wohlfühle und für diesen Zustand muss man kämpfen. John Petrucci schreibt eher Songs die Fantasy-Elemente beinhalten, was ich sehr cool finde. Es bringt Dream Theater einen weiteren Zugang und ergänzt sich gut mit meinen Texten, die die Realität und nicht die Imagination aufgreifen. Es ist völlig egal, welche Künstler oder Bands du heranziehst - wie in einer Glaskugel kannst du bei jedem Album sofort sagen, was bei ihnen in diesem Moment gerade los war. Individuell und kollektiv. Jedes Album spiegelt gerade wider, wie es den Musikern dahinter und der Welt selbst an diesem Moment ging. Ein Album ist so etwas wie eine Sozialstudie.

James, du bist seit exakt 30 Jahren Sänger bei Dream Theater und seit dem zweiten Album dabei. Wie würdest du diese Zeit in wenigen Worten zusammenfassen?
Wow. Gut, dass du mich daran erinnerst. Ich kann es nicht fassen, dass jetzt 30 Jahre ins Land gezogen sind, das fühlt sich absolut nicht real an. Abseits von diesem Wimpernschlag der Geschichte hatte ich ein spannendes und tolles Leben. Es gab herausfordernde, schmerzhafte und schwierige Momente, wie bei allen anderen Bands auch. Wir sind alle nur Menschen und machen dieselben Probleme durch wie jeder andere auch. Völlig egal, welche Karriere du hast oder woher du kommst. Ich fühle mich aber gesegnet und kann auf sehr viele Dinge stolz sein. Das nächste Soloalbum steht auch schon wieder vor der Tür. Ich kann mich nicht beschweren. Am Schlimmsten war es 1994, als ich mir die Stimmbänder ruinierte und der Heilungsprozess sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Abseits davon hatte ich bislang ein wirklich großartiges Leben.

2022 geht ihr auch wieder auf große Tour und kommt im Wiener Gasometer vorbei. Worauf dürfen wir uns freuen?
Das neue Album wird nicht das Zentrum des Konzerts sein, das wäre den Fans gegenüber nicht fair. Es wird genug Raum für die Klassiker und auch ausreichend neue Songs geben. Wir haben auch vor, ein paar ältere und selten gespielte Tracks in den Vordergrund zu holen. Die Setlist unserer US-Tour diesen Herbst wird definitiv nicht dieselbe sein wie die in Europa nächstes Jahr. Die Fans werden wieder spüren, was Dream Theater seit mehr als 30 Jahren ausmacht.

Live in Wien
Am 11. Mai 2022 werden Dream Theater live im Wiener Gasometer zu sehen sein. Weitere Infos und Karten für das Konzertspektakel finden Sie unter www.oeticket.com

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele