Miese Stimmung
EU-Beitritt wird in der Türkei immer mehr zum Reizwort
In früheren Erweiterungsrunden habe die EU mit ermutigenden Signalen und Willkommensgesten die für eine Aufnahme notwendigen Reformen in den Kandidatenländern unterstützt. Doch bei der Türkei sei inzwischen das Gegenteil der Fall, erklärt Sinan Ülgen, Chef des Istanbuler Zentrums für wirtschafts- und außenpolitische Studien (EDAM). "Die negativen Botschaften aus der EU haben das politische Momentum für Reformen in der Türkei gebremst."
Nur noch 40 Prozent wollen in die Union
Der Streit über Nordzypern, das Nein Frankreichs zum EU-Beitritt der Türkei und das Angebot der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel einer strategischen Partnerschaft anstelle der Vollmitgliedschaft lähmen die Verhandlungen. Die Türken fühlen sich abgewiesen, sodass sich nur noch knapp 40 Prozent der Bürger gegenüber 74 Prozent vor dem Beginn der Verhandlungen ihr Land in der EU wünschen. Laut Ülgen hielten inzwischen viele Türken eine Zukunft außerhalb der EU für erstrebenswert. Das Land könnte sich zu einer regionalen Hegemonialmacht entwickeln, was wiederum der EU schaden könnte, wenn es in strategisch wichtigen Fragen zu Konflikten kommen würde.
Angst vor Islamisierung der christlich geprägten EU
In Deutschland, Frankreich oder Österreich ist der Türkei-Beitritt sehr umstritten. Für einen Beitritt spricht, dass die Türkei als Bindeglied zwischen Europa und dem Nahen Osten die Bedeutung der EU als globale Macht stärken könnte. Die aufstrebende Volkswirtschaft mit ihrer relativ jungen Bevölkerung von mehr als 70 Millionen Menschen könnte der Gemeinschaft als Wachstumsmotor nützen. Dagegen sprechen Bedenken, ob das landwirtschaftlich geprägte, sozial rückständige Land die EU-Finanzen nicht überfordern würde. Doch vor allem herrscht Angst vor einer Islamisierung der christlich geprägten EU.
Die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan sei aber weit davon entfernt, vom Kurs auf die EU abzuweichen, sagt Joost Langendijk von der Denkfabrik Istanbul Policy Center. Sie habe größtenteils die von der EU geforderten Reformen wie Meinungsfreiheit oder Minderheitenrechte zur eigenen Agenda gemacht. "Die türkischen Politiker wollen selbst das Land verändern, was nur gut ist, denn es wäre nicht sinnvoll, wenn die EU Forderungen stellt und die Türkei gehorchen muss."
Verfassungsänderungen werden weiter ausgebaut
Die per Volksabstimmung im September beschlossenen Verfassungsänderungen zu Justiz, Militär und Gewerkschaften waren erst Teil eins einer grundlegenden Reform. Die Regierung Erdogan will im Fall ihrer Wiederwahl im Juni nächsten Jahres ein weiteres Änderungspaket vorlegen. Es wird die wichtigste Verfassungsreform der Türkei seit einem Jahrzehnt. Die Kurden als größte unterdrückte Minderheit setzen große Hoffnungen in den Prozess. Sie fordern die völlige Anerkennung ihrer Kultur und Sprache. "Die Chancen, das zu erreichen, waren noch nie so groß wie jetzt", sagt Langendijk. Zum ersten Mal werde ernsthaft über Lösungen im Kurdenkonflikt diskutiert.
So wie vor zehn Jahren könnte die Perspektive EU-Beitritt die Verfassungsreform positiv beeinflussen. Die EU sollte sich nicht in die Inhalte einmischen, aber ein Umfeld schaffen, das Reformen nach europäischen Standards begünstigt, fordert Ülgen. "Den Türken das Vertrauen zu geben, dass sie eine Zukunft in Europa haben, das fehlt." Wenn die Vision EU-Beitritt wieder stärker präsent wäre, könnte auch die bedenkliche autoritäre Tendenz im stark polarisierten türkischen Parteiensystem gestoppt werden. Doch nun drohe die Reform erneut ein Projekt der Partei mit der größten Mehrheit zu werden statt die Opposition und alle gesellschaftlichen Gruppen einzuschließen, wie es wünschenswert wäre, sagt Ülgen.
Experte: Positives Signal seitens der EU vonnöten
In kritischen Phasen auf dem Balkan schreckte die EU nicht davor zurück, die pro-europäischen Kräfte mit konkreten Belohnungen zu stärken. So stellte sie den Serben Reise- und Handelserleichterungen vor der Präsidentenwahl 2008 in Aussicht, als dem EU-freundlichen Kandidaten Boris Tadic eine Niederlage drohte. Fortschritt in Richtung einer Visa-Liberalisierung zum Beispiel wäre nach Ansicht der Forscher ein wichtiges Signal an die Türken, von der EU nicht abgeschrieben zu sein. "Es ist schwer zu verstehen, dass die EU sich den Balkanländern öffnet, aber als Türke muss man ein demütigendes Verfahren durchlaufen, um ein paar Tage nach Europa zu reisen", kritisiert Langendijk.
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