Das große Interview

Wacht die Kirche jetzt endlich auf, Frau Wagner?

Österreich
17.02.2019 06:00

Die ehemalige Ordensfrau Doris Wagner spricht mit Conny Bischofberger über ihr Martyrium in einem Vorarlberger Kloster, das Zusammentreffen mit Kardinal Schönborn und die im Vatikan bevorstehende Konferenz zum Thema Missbrauch.

Es war ein bewegender Fernsehmoment: In der TV-Dokumentation „Missbrauch in der katholischen Kirche - eine Frau kämpft um Aufklärung“ erfolgte ein Zusammentreffen zwischen Doris Wagner und Kardinal Christoph Schönborn. Die heute 35-Jährige war bereits 2014 mit ihren Missbrauchserfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen, stieß aber jahrelang auf eine Mauer des Schweigens. Im Februar 2019 dann die Wende: Kardinal Schönborn sagte Doris Wagner vor laufenden Kameras, dass er ihr glaube. Seither ist eine neue Dynamik in die Diskussion um Missbrauch in der Kirche gekommen. Die „Krone“ erreichte die Buchautorin und bald promovierte Philosophin in Hessen.

„Krone“: Frau Wagner, wie erklären Sie sich, dass sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche jahrzehntelang vertuscht wurde und nun plötzlich offen darüber geredet wird?
Doris Wagner: Das liegt einerseits an den Zahlen. Es gibt Untersuchungen wie die MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz, die Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker belegt und jene Strukturen und Dynamiken benennt, die Missbrauch begünstigen. Außerdem sind die Opfer heute besser vernetzt als früher.

Und dann gibt es Opfer wie Sie, die den Mut haben, ihre Geschichte zu erzählen. Wie kam es dazu?
Mit meinem ersten Buch „Nicht mehr ich“ wollte ich Menschen erreichen, denen Ähnliches widerfahren ist wie mir. Ich wollte andere junge Menschen warnen. Ab diesem Zeitpunkt war der Schritt hinaus getan.

Ihre Missbrauchserfahrungen haben Sie in einem österreichischen Kloster gemacht. Was ist da passiert?
Ich wurde systematisch meiner Freiheit beraubt, manipuliert und psychisch unter Druck gesetzt. Die Oberin hat mich geformt, hat mir gesagt, was ich tragen darf, was ich denken soll. Ich durfte meine Familie nicht mehr sehen, keine Bücher mehr lesen. Irgendwann hörst du auf zu denken, du verlierst ein Stück deiner Identität.

Ist das der Grund, warum man nicht aufspringt und schreiend davonrennt, wenn es zu einer Vergewaltigung kommt?
Ja, genau das ist der Grund. Deshalb habe ich in meinem zweiten Buch über spirituellen Missbrauch geschrieben. Er geht Hand in Hand mit dem sexuellen Missbrauch.

Was ist dem Priester passiert, der Ihnen das angetan hat?
Gar nichts. Ich habe ihn angezeigt, sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Was mich so empört, ist die Tatsache, dass das Sexualstrafrecht eine sexuelle Handlung gegen den Willen einer Frau nicht als Vergewaltigung wertet. Deshalb wurde das Verfahren eingestellt. Man muss erst gefesselt oder mit einer Waffe bedroht werden, damit der Tatbestand Vergewaltigung erfüllt ist. Aber die Einstellung des Verfahrens bedeutet noch lange nicht, dass die Justiz meint, dass nichts passiert ist.

Nun hat Ihnen Kardinal Schönborn in der TV-Dokumentation des Bayerischen Rundfunks zugehört und auch geglaubt. Was war das für ein Moment?
Ich wusste schon vorher, dass er mir glaubt. Aber es ist ein Unterschied, ob Kardinal Schönborn mir das unter vier Augen sagt oder ob er es vor laufenden Kameras tut. „Ich glaube Ihnen.“ Mit diesen Worten hat er viele Opfer von Missbrauch erreicht und getröstet. Das haben mir viele gesagt, die das Gespräch gesehen haben. Es ist aber auch ein politisches Statement, wenn ein so hoher Kirchenvertreter Unrecht offen und ehrlich anerkennt.

Sie haben in unserem Interview vor fünf Jahren gesagt: „Ich würde mir wünschen, dass Kardinal Schönborn mein Buch liest. Und dass er meine Geschichte ernst nimmt.“
Habe ich das wirklich gesagt? Erstaunlich. Genau das hat sich jetzt erfüllt. Damals habe ich das nicht ernsthaft erwartet.

Bei Missbrauch denkt man meist an Männer als Täter. Ist das ein Trugschluss?
Ja, bestimmt. Einerseits erleben 30 Prozent aller Ordensfrauen sexuelle Übergriffe. Andererseits sind Frauen aber auch sehr oft Täterinnen, das darf man nicht vergessen. Für die Kirche hingegen sind Männer die Opfer. In meinem Kloster wurde uns vermittelt, dass wir eine Gefahr für die Männer seien, dass wir uns zurücknehmen sollten, weil sie sonst verführt würden. Wörtlich sagte mir sogar ein Priester in der Beichte, ich sei ein „Instrument des Teufels“.

Vom 21. bis zum 24. Februar werden die Vorsitzenden der nationalen und regionalen Bischofskonferenzen aus aller Welt mit Papst Franziskus im Vatikan über Maßnahmen gegen Missbrauch beraten. Wacht die Kirche endlich auf?
Nein.

Nein? Aber es passiert doch jetzt einiges.
Papst Franziskus hätte eine große Bischofssynode einberufen können. Stattdessen hält er eine kleine Konferenz ab, in deren Vorfeld er sogar noch die Erwartungen heruntergeschraubt hat.

Was müsste passieren, dass sich wirklich etwas ändert?
Die Strukturen müssten sich ändern. Die katholische Kirche ist eine absolute Monarchie, ohne vernünftige Kontrollinstanzen, ohne unabhängige Gerichtsbarkeit und ohne Rechte für die Kirchenbürger. Wenn die Bürger ihre Pfarrer und die Bischöfe und letztendlich den Papst selbst wählen könnten, dann wäre das eine andere Kirche.

Glauben Sie nach allem, was Sie erlebt haben, noch an Gott?
Das hängt davon ab, wie man Gott definiert. An einen Gott, der ein paar Herren in Rom exklusiv mitteilt, was sein Wille ist, glaube ich nicht mehr. Aber die Welt der kirchlichen Bilder, der sakralen Musik, das wird immer meine Heimat bleiben.

Gibt es in Ihren Augen Wiedergutmachung?
Man kann das, was einem angetan wird, nicht ungeschehen machen, das Trauma bleibt. Aber es gibt zwei Dinge, die Opfern zustehen: Anerkennung und Entschädigung. Was Kardinal Schönborn - auch mit seiner persönlichen Offenheit - getan hat, ist ein großer Schritt. Aber auch die direkt Verantwortlichen könnten sagen: Das hätte euch nicht passieren dürfen. Wir hätten das verhindern müssen. Und für jene, die aufgrund des Missbrauchs nicht zur Höhe dessen gelangt sind, wozu sie fähig wären, müsste es auch eine angemessene finanzielle Entschädigung geben. Das ist das Mindeste, was man den Opfern schuldig ist.

Die zwei Gesichter des Missbrauchs
Geboren 1983 im bayrischen Ansbach. 2003 tritt Doris Wagner, die später in Rom, Freiburg, Erfurt und Münster Philosophie und katholische Theologie studierte, in das Kloster Thalbach in Bregenz ein. Acht Jahre lang erlebt sie Kontrolle, Druck und sexuelle Übergriffe. 2011 tritt sie aus dem Orden aus.

In ihrem neuen Buch (Bild oben) zeigt sie auf, dass sexueller Missbrauch mit spirituellem Missbrauch einhergeht. Wagner ist mittlerweile verheiratet und lebt in Deutschland.

Conny Bischofberger, Kronen Zeitung

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