Gentleman

Gentleman im Interview

Musik
07.09.2007 15:52
Tilmann Otto alias Gentleman gilt als der angesagteste Reggae-Artist Mitteleuropas und einer der wenigen Auserwählten, die in der Heimat des Genres, Jamaika Zustimmung und Respekt finden. Nach drei höchst erfolgreichen Platten geht der zwischen Deutschland und Jamaika pendelnde Kölner mit „Another Intensity“ seinen nunmehr vierten Streich an. Er bleibt seiner Formel Roots-Reggae plus aufrüttelnde Texte strikt treu. Was es dennoch Neues über „Another Intensity“ zu berichten gibt, warum er sich selbst als „Gutmensch“ sieht und die Institution Papst „albern“ findet, sagt Gentleman im Krone.at-Interview. Plus: Das Video zur neuen Single „Different Places“!
kmm

Dein neues Album heißt „Another Intensity“. Meinst du damit eine neue Intensität deiner Erlebnisse von deinen Reisen, die ja immer in deine Songs einfließen - oder ist es eine neue Intensität der Songs, die auf den Zuhörer wirkt?

Sowohl als auch! „Another Intensity“ breitet sich so weit aus, es ist so ein weites Feld. Wenn du ein neues Album machst, fragst du dich als erstes: Wo steh ich gerade? Wo will ich hin? Was sind meine Ängste, Freuden im Moment? Was wünsch ich mir?

Ein Album ist der Ausdruck eines Wunsches - und was ich mir wünsche ist, eine andere Intensität in ganz vielen Belangen. Vor allem, was zwischenmenschliche Beziehungen angeht. Wenn du von Reisen, beispielsweise aus Afrika zurückkommst, wird dir das erst so richtig bewusst, was hier für Dialoge herrschen. Nämlich kaum welche!

Diese Scheinheiligkeit, diese Spaßgesellschaft, diese Doppelmoral hat auch „Another Intensity“ angenommen. Das Tempo hat auch ‘ne andere Intensität, die Competition hat ‘ne andere Intensität, die Ängste, die Paranoia der Menschen - aber auch die Hoffnung. Es gab da einen Satz aus dem Buch „The Good Life“ (von Charles Colson und Harold Fickett), der hat mich angesprochen: „We got to be still, and still moving into another intensity.“ 

Das traf genau meine Thematik. Du bist drei Monate auf Tour und hast das Gefühl, du willst jetzt endlich länger an einem Ort sein. Dann bist du an dem Ort und irgendwie ist es trotzdem nie richtig - Nachbar‘s Kirschen schmecken immer besser...

Woran stellst du diese Dinge, die du eben genannt hast fest? Scheinheiligkeit, Spaßgesellschaft, Tempo...

Das merkt man dann, wenn man woher kommt; wenn man zwei Welten gesehen hat und auf einmal objektiv beurteilen kann; wenn man aus der eigenen Welt ausbricht, was wir als Band eigentlich seit vier, fünf Jahren am Stück machen. Ich hab in den letzten Jahren weniger Zeit in Deutschland verbracht, als... im Rest der Welt!

Und diese Erfahrungen, diese Eindrücke, die man mitnimmt, die geben dir ein ganz anderes Bild, was unsere Gesellschaft betrifft. Gerade eine Afrikareise: Wenn du in Gambia, in Ghana eine Tour durch kleine Dörfer gemacht hast und mit den Leuten dort geredet und dir ihre Probleme angehört hast - dann kommst du zurück, machst den Fernseher an und siehst, wie es auf MTV bei Jackass nur darum geht, wer weiter kotzen kann - das geht ganz anders an die Substanz.

Dieses Verteilungsproblem, diese Ungerechtigkeit, diese Spaßgesellschaft - die ja auch irgendwo eine Berechtigung hat, aber eben nur bis zu einem gewissen Level - das fällt dir mit einer ganz anderen Intensität ins Auge. In Dritte-Welt-Ländern herrscht ein ganz anderer Dialog, den ich hier vermisse. Da geht‘s um Spirits und um Persönlichkeiten und die eigenen Ängste - nicht um Verdrängen und Wegrennen und Konsumieren. 

Wir als Eltern - ich hab ja zwei Kinder - haben heute nochmal eine ganz andere Herausforderung, was Erziehung betrifft, als unsere Eltern damals. Bei uns gab‘s drei Fernsehprogramme - was jetzt an Informationsflut und an Schnelligkeit am Start ist, das sind ganz andere Extreme. Wir müssen unseren Kindern lehren, wie man das filtert.

Nimm Sexualität zum Beispiel. Sexualität wird heute nicht mehr entdeckt, es wird Pornografie konsumiert. Wenn du in Berlin in einem Café hockst, sitzen zwanzig von dreißig Leuten vor‘m Laptop. Bei uns ist es ja auch nicht anders, und es ist ja auch okay bis zu einem gewissen Punkt. Aber wenn‘s dann heißt: Komm, lass uns doch einmal treffen, Tee trinken gehen. Dann kommt als Antwort: Nee, besuch mich doch auf MySpace. Lass uns Freunde sein (lacht). Ich werd‘ zeitweise schon blöd angemacht, so nach dem Motto: Hey, warum willst du nicht mein Freund sein? Verdammt, ich kenn dich doch nicht!

Zermürbt einen die Rückkehr auf den eigenen Kontinent - oder spornt es dich an?

Sowohl als auch. Im ersten Moment geht das so richtig in die Magengrube, aber es gibt auch Motivation und Kraft. Es ist auch immer wieder eine Bestätigung. Meine Mucke (Musik) hat genauso ihre Berechtigung wie Aggro Berlin oder sonstwas. 

Du bist deinem Stil musikalisch über die Jahre  treu geblieben und hast rein gar nichts verändert. Mit Erfolg. Ist es über die Jahre inhaltlich schwieriger geworden, deine Botschaften über Liebe, Toleranz und Respekt „unters Volk zu bringen“?

Ja, nach drei Alben auf jeden Fall. Es wird mir auch immer so eine gewisse Naivität vorgehalten und so ‘ne Schwarz-Weiß-Malerei. Das ist gut und das ist böse, so ‘ne Verallgemeinerung, was aber bei genauem Hinhören - gerade was das letzte Album Confidence angeht - doch sehr schmerzhaft klingt.

Es geht mir gar nicht so sehr darum, Lösungen parat zu haben, sondern Wahrheiten, die ich herausgefunden habe, mit den Leuten zu teilen. Ich will ihnen sagen, dass sie mit ihrem Denken nicht alleine sind. Das ist auch das, was ich an Musik so stark finde. Aber es wird allgemein schwieriger, Alben zu machen, den Punkt zu finden, an dem du als Künstler loslassen musst, und sagen: So, jetzt ist mal gut. 

Was ich in deinen Songs zu meiner Verwunderung fast gar nicht antreffe, sind Ausdrücke von Ärger, Frustration, Zorn; man hört es zwar in den Texten, die Musik bringt es jedoch zu keinem Zeitpunkt rüber. Hältst du diese „negative Schwingungen“ bewusst raus oder bist du ein Mensch, der sich nicht ärgert? 

Ach, ich seh das überhaupt nicht so! Ich lass meinen ganzen Frust in der Musik aus - auch wenn sich das nicht so anhört. Vor allem, was das Texten angeht. Ein Song wie „Tranquility“, „Lack Of Love“, „Rage And Anger“,...

Ja, man liest es ja auch im Text, aber in der Musik fehlt es...

Ja, es ist schon so, dass Musik in erster Linie ein Mittel ist, um mit dir im Einklang zu sein, Ruhe zu finden, Dinge zu verarbeiten; du machst dir ja keinen Plan, was da reinkommen soll -  es ist ein Prozess, der passiert und auf einmal ist es fertig. 

Vor zehn Jahren noch war Reggae in unseren Breiten etwas für Dreadlocks-Träger und Menschen mit Bob-Marley-Patches auf ihren Rucksäcken. Findest du, dass Reagge in letzter Zeit „salonfähig“ geworden ist?

Ich glaube, dass sich die Musik etabliert hat. Und auch nicht mehr wegzudenken ist - aus den Großstädten und auch vom Land. Es gibt auch eine Nachfrage, das sieht man zum Beispiel an den Festivals im Sommer, wo 30.000 Leute hinkommen und Reggae hören wollen. Trotzdem ist es so, dass ich mir irgendwann gedacht habe, es sei eine Musik, die richtig groß werden könnte - aber es ist eigentlich eine Nische geblieben. Im Vergleich zu Hip-Hop, R‘n‘B oder Soul. 

Ich hab gehofft, dass sich Leute, die auf Gentleman gekommen sind, sich auch irgendwann ein Album von anderen Künstlern zulegen. Da hat sich aber nicht viel getan. Deshalb glaube ich schon, dass die Musik zwar gewachsen ist und es überall Strukturen gibt, die auch funktionieren - trotzdem ist es ‘ne Nische, ein Underground-Ding.

Warum? 

Das ist ‘ne gute Frage. Warum ist DJ Ötzi in den Charts?

Touché, gute Frage. Aber vom Kulturstandpunkt her gesehen, hat doch Reggae mit Mitteleuropa genauso viel zu tun, wie Hip-Hop oder Soul - oder irre ich mich?

Ja, aber das ist auch mit anderen Genres so. Jede Musik ist irgendwo adaptiert. Vielleicht tut Reggae einfach zu weh, vielleicht ist sie zu ehrlich, zu direkt, zu wahr; und ich red‘ jetzt nicht von Dancehall-Musik, sondern von Roots-Reggae. Das eine hat nämlich überhaupt nichts mit dem anderen zu tun. Dancehall ist auch Hip-Hop und BlingBling und Bitches...

Das heißt, du kannst den Text eines Modern-Talking-Songs nicht in ein Roots-Reggae-Gewand kleiden, sehr wohl aber als Hip-Hop oder Dancehall machen...

Da will ich jetzt nix zu sagen (lacht)...

Du bist kein Freund von institutionalisierten Religionen. Wie stehst du dem Papst gegenüber, oder religiösen Staatschas jetzt drei verschiedene Sachen, die du da angesprochen hast. Politik muss leider sein, mittlerweile. Es lässt sich ohne Politik nichts regeln, und es ist falsch, zu sagen, dass Politiker an allem Schuld wären. Die sind ja meiner Meinung nach auch nur mehr Gesichter und können selber kaum etwas bewirken. Wenn wir es als Menschen früher gecheckt hätten, und es auf die Reihe bekommen hätten, Konflikte im Dialog zu lösen, bräuchten wir keine Politiker. So gesehen haben sie aber irgendwie ihre Berechtigung. 

Die Institution Papst finde ich total albern und auch erschreckend, extrem mittelalterlich, extrem ignorant und teilweise auch menschenverachtend. Was im Vatikan abgeht, die Geschichte der katholischen Kirche... das ist schon krass, ey! Mein Vater ist ja selber Pastor, evangelischer - aber was der Papst da vor kurzem wieder von sich gegeben hat, von wegen Kondome und so; das ist ja schon fast wieder lustig. Ich finde ihn als Mensch vielleicht ganz okay, er ist ein smarter Typ und hat sicher eine Menge auf‘m Kasten, aber seine Position, die Institution Papst ist einfach nur albern. 

Was kommt dir bei dem Begriff „Gutmensch“ in den Sinn?

Jemand, der sein Gewissen erkennt und aufgrund seines Gewissens lebt. Jemand, der nicht verdrängt und sich Sachen ansieht. Jemand, der auch unbequem sein kann. 

Bist du ein Gutmensch?

Ja, ich bin ein Gutmensch - zumindest bin ich auf dem besten Weg dorthin. Ich kann keiner Fliege was zu leide tun, ich hätte ein extrem schlechtes Gewissen. Und daran fehlt‘s glaub ich vielerorts, am Bewusstsein, das alles, was du machst, auch wieder zurückkommt. Es gibt auch Hölle als Zustand auf Erden. 

Aber ich glaube nach wie vor an das Gute im Menschen. Das ist auch etwas, das ich das Göttliche nenne. Selbst der Buddman, den ich in Kingston getroffen habe, der schon fünf Leute gekillt hat und einem Menschen den Finger abgeschnitten hat - selbst bei dem kann ich etwas Gutes erkennen, wenn er mit seinen Kindern zusammen ist und man das Strahlen in seine Augen sieht. Es ist immer nur das Umfeld, das den Menschen prägt.

Ich würde mir Wünschen, dass die Leute mehr Verantwortung übernehmen. Einerseits für sich, andererseits aber auch für das Drumherum. Womit wir wieder bei der Gesellschaft sind. Ihr fehlt diese Verantwortung, dieser Overlook.

Fühlst du dich als Kämpfer gegen etwas, wogegen du nicht ankommen kannst?

Vielleicht. Aber es ist das Sinnvollste, was ich machen kann. Vielleicht ist es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein - aber es reicht schon. Wenn ich sehe, was mir an Reaktionen von den Leuten entgegenkommt. In Südamerika 15.000 lachende Gesichter sehen, die Briefe, die ich bekomme - das macht einfach Sinn. 

Merkst du einen Unterschied zwischen Songs, die du in Deutschland aufgenommen hast und Songs, die in Jamaika entstanden? Akustisch, inhaltlich...

Von der Musik her gibt es keine Unterschiede mehr, weil die Studios auf Jamaika schon dieselben Standards haben, wie bei uns. Auch da hat eine Globalisierung stattgefunden. Für mich persönlich... wenn ich in Jamaika bin, komm ich eher an meine Quelle dran. Ich bin in meinem kreativen Flow nicht so unterbrochen, wie in Deutschland. Hier klingelt nonstop das Telefon, wir haben außerdem eine Bookingagentur, ein Plattenlabel und da ist auch noch meine Familie.

In Jamaika ist das anders. Da flieg ich nach Kingston rein, um Musik zu machen - und das ist alles. Von der Arbeitsweise her ist es aber ziemlich ausgeglichen, es gibt auf beiden Seiten dasselbe Equipment, wobei in Jamaika natürlich eine längere Tradition herrscht, was Reggae betrifft. Dort geht auch alles nach dem Zuerst-Machen-dann-Nachdenken-Prinzip, in Deutschland ist es dann doch etwas mathematischer, mit mehr Kopfarbeit. 

Siehst du auch eine inhaltlichen Unterschied? Sind Songs aus Jamaika zum Beispiel fröhlicher, energiegeladener?

Nee, das Ding ist ein Song. Ein Song ist nie an einen Ort gebunden. Wenn das Ding aus den Lautsprechern kommt, geht es direkt ins Universum, raus ins All. Der ist jetzt aus Jamaika, der ist aus Deutschland - das gibt es bei mir nicht.

Das heißt, du hast beide Orte lückenlos verknüpft?

Ja, schon irgendwie. Es gibt zwar immer Unterschiede, trotzdem ist es so, dass die Grenzen mittlerweile verflossen sind. Früher bin ich nach Deutschland zurückgekommen und immer in ein Loch gefallen. Das hab ich jetzt nicht mehr. Auch das Reisen hat sich relativiert, es ist jetzt nicht mehr dieses große Ding: Oh, ich flieg jetzt nach Jamaika. Sondern ich bin nächste Woche wieder da und misch jetzt noch einen Song, und dann kehr ich auch schon wieder zurück.

Was nimmst du aus diesen beiden unterschiedlichen Welten mit?

So unterschiedlich sind die gar nicht. Die Probleme und Ängste der Menschen sind überraschend gleich - egal, ob das Südamerika und Afrika oder Kingston und Berlin ist. Das Interesse der Jugend, die Prioritäten, die Values - in einer globalisierten Welt merkst du diesen Unterschied nicht mehr. Es gibt auf beiden Seiten ein korruptes System, unfähige Politiker und mächtige Wirtschaftsbosse. Selbst in der Plattenindustrie gibt es dieselbe Korruption wie hier. Überall gibt‘s gleiche Formen und trotzdem sind die Probleme anders, besser gesagt, anderer Natur. Auch was die Gewalt angeht, ob das jetzt Kingston, England oder Berlin ist - es ist ja gerade Thema in jeder Tageszeitung, dass die Leute immer jünger werden, dass die Musik einen großen Einfluss drauf hat. 

Wieviel Liebe braucht man, um die Welt zu retten?

Boah... (lacht) Wie misst du Liebe? Ja, aber um die Welt zu retten, brauchst du die komplette Liebe. Jeder muss mit einverstanden sein, jeder muss sich retten lassen wollen. Dann hast du eine Chance. 

Interview: Christoph Andert

Gentleman spielt heuer übrigens noch zwei Mal in Österreich: Am 19. November im Gasometer Wien und am 20. November in der Helmut-List-Halle in Graz.


Quelle: YouTube.com 
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