Ende der Ära Merkel?

Martin Schulz: Der Messias der Sozialdemokratie

Ausland
04.03.2017 13:07

Im Festzelt der deutschen Sozialdemokraten bei der Aschermittwochsfeier in Vilshofen an der Donau kursierte der Scherz, Martin Schulz sei über das Wasser schreitend zu den glückseligen Genossen hereingekommen. Tatsächlich: Kaum vier Wochen als Kanzlerkandidat, lösen Auftritte des Heilsbringers vor Genossen "rote Räusche" (Zitat: CSU) aus. Wer ist dieser Mann, dessen Umfragerekorde das baldige Ende der Ära von Kanzlerin Angela Merkel bedeuten könnten?

Martin Schulz ist der lang ersehnte Messias, der die SPD, ja die gesamte, ziemlich bedrängte Sozialdemokratie Europas wieder in lichte Höhen führen soll. Er hat eine verzagte Partei wach geküsst.

Laut jüngsten Umfragen hat Schulz innerhalb kürzester Zeit die SPD aus ihrem Jammertal von 20 Prozent nahe an die CDU/CSU katapultiert: 31 zu 33 Prozent. In der Kanzlerfrage liegt er mit 37 Prozent schon praktisch gleichauf mit Merkels 38 Prozent.

Kann dieser Martin Schulz tatsächlich Wunder wirken? Kein Zweifel: Der Mann hat Charisma, gepaart mit einem Schuss Populismus. Die kumpelhafte Art des feurigen Redners lässt blitzschnell den Funken überspringen. Dazu kommt aber auch eine harte politische Linie nach links. Martin Schulz hatte den Mut, Gegen-Reformen an der heiligen Kuh der deutschen Politik, der Reformen-"Agenda 2010" seines "eigenen" Bundeskanzlers Gerhard Schröder, zu verlangen.

Angst vor Absturz in Armut greift um sich
Diese "Agenda 2010" hat zwar die auf Schröder folgende CDU/CSU glücklich gemacht, aber die SPD zur Verzweiflung getrieben. Die Reformen waren gewiss notwendig gewesen und haben so ihre Meriten (Deutschland ist heute der Kraftlackel in Europa), aber sie haben auch einen hohen Preis: wachsender Niedriglohnsektor, Altersarmut, immer größere Gerechtigkeitslücke. Deutschland hat eine soziale Unterschicht bekommen, wie man sie vor Jahrzehnten als überwunden glaubte.

Die Regierung von Merkel erntete die Früchte der gestärkten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft - und die SPD musste mit dem Vorwurf des "Sozialverrats" leben. Davon profitierten Linkspartei und Grüne.

Schulz vollzog sozialpolitische Kurskorrektur
Die deutschen Sozialdemokraten waren in der Koalitionspflicht gefangen. Parteichef Sigmar Gabriel sah sich nicht in der Lage, Kurskorrekturen durchzusetzen. Also übergab er kurzerhand an Martin Schulz. Der ist "unbelastet" und frei von Koalitionsverpflichtungen. Schulz hat die Partei in einer Flucht nach vorn von selbst auferlegten Fesseln befreit, hatte den Mut, Fehler seiner Partei einzuräumen, und vollzog so die sozialpolitische Kurskorrektur.

Ironie der Geschichte: Heute verteidigt die Merkel-Regierung die "Agenda 2010" des SPD-Kanzlers Schröder gegen Korrekturabsichten des SPD-Kanzlerkandidaten Schulz. Apropos Merkel: Jede Medaille hat zwei Seiten. Schulz wäre nicht Schulz, würde es nicht auch eine ausgewachsene Merkel-Müdigkeit geben. Mit ihrem "präsidialen" Regierungsstil hat sich die Langzeitkanzlerin dem Volk stets zu wenig erklärt.

Volkstribun mit abenteuerlichem Lebenslauf
Den Deutschen fehlte jedoch eine akzeptable Alternative. Diese haben sie jetzt in dem Volkstribunen Schulz gefunden. Was finden die Deutschen so attraktiv an diesem Mann, kommt er doch aus der EU? Stimmt. Er hatte dort als Parlamentsvorsitzender das EU-Parlament aus seiner Bedeutungslosigkeit geholt und diesem ein politisches Profil verpasst.

Martin Schulz (62) ist ein alter deutscher Sozialdemokrat mit Stallgeruch durch und durch. Und mit einem abenteuerlichen Lebenslauf: Beamtensohn im Ruhrgebiet, Mittelschulabbruch vor der Matura, aus der Bahn geraten, Alkoholiker - und dann die Wende: Buchhändlerlehre, Buchhändler, Bürgermeister des Ruhrgebietsstädtchens Würselen, SPD-Parteivorstand, EU-Parlament. Hat fünf Sprachen gelernt und lebt nun abstinent.

Man kann Martin Schulz vieles unterstellen, nur eines nicht: fehlende Tatkraft und mangelndes Selbstbewusstsein. "Wir waren schlafen gegangen und mit dem Brexit aufgewacht. Wir waren schlafen gegangen und mit Trump aufgewacht", ruft er, Österreichs Kanzler Christian Kern zitierend, am Aschermittwoch den Genossen im Festzelt zu - und ergänzt: "Und wir werden nach dem 24. September mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland aufwachen!"

Kurt Seinitz, Kronen Zeitung

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