Kurz vor Wahlen

Whistleblowing setzt Erdogan immer mehr zu

Ausland
28.03.2014 13:26
Die Türken entscheiden am Sonntag über Bürgermeister und regionale Parlamente. Mehr als bei anderen Kommunalwahlen steht am 30. März die nationale Politik im Vordergrund. Es geht um eine Vertrauensabstimmung über Premier Recep Tayyip Erdogan, der seit Monaten wegen diverser Skandale in der Kritik steht. Deshalb machte die Regierung nun die Rollläden dicht: YouTube und Twitter sind abgedreht, aus Angst vor weiteren peinlichen Enthüllungen. Schon in der Vergangenheit dienten Telefonmitschnitte und Sexvideos als Fallstricke, in denen sich Politiker in der Türkei verfingen.

Am 30. März wird in der Türkei auf kommunaler Ebene gewählt. Nur einige Monate später sind dann die Präsidentschaftswahlen angesetzt. Im Falle eines schlechten Abschneidens der Regierungspartei AKP bei den beiden Urnengängen wird auch mit vorgezogenen Parlamentswahlen noch in diesem Jahr gerechnet.

Laufend werden Telefonmitschnitte veröffentlicht
Zum Ärger von Erdogan werden seit Mitte Februar laufend Telefonmitschnitte des Regierungschefs mit Medienmogulen, Wirtschaftsbossen und Familienangehörigen auf der Videoplattform YouTube in Umlauf gebracht. Die "Whistleblower"-Aktivitäten stellen Erdogan ins Zentrum von Korruptionsvorwürfen im großen Stil. Die Aufnahmen stammen aus zum Teil mit verschlüsselten Mobiltelefonen geführten Gesprächen des Ministerpräsidenten. Immer wieder fällt der Verdacht auf das Netzwerk des einflussreichen Predigers und Erdogan-Intimfeindes Fethullah Gülen. Er soll der Drahtzieher hinter den Enthüllungen des brisanten Materials sein. Gülen selbst weist natürlich jeden Zusammenhang mit den veröffentlichten Mitschnitten zurück.

Größter Korruptionsskandal in der AKP-Geschichte
Am 17. Dezember 2013 läutete eine Großrazzia den größten Korruptionsskandal in der Geschichte der sich seit über einem Jahrzehnt an der Macht befindlichen AKP ein. Der Skandal umfasste vier Minister, den Regierungschef, deren Familien sowie das wirtschaftliche Umfeld der Partei. Die Regierung wurde von der Opposition beschuldigt, die Untersuchungen zu verschleppen und belastende Beweise zu vernichten. Alle Hauptverdächtigen in dem Skandal befinden sich, teils mit Auflagen, wieder auf freiem Fuß. Mit der seit Wochen anhaltenden Veröffentlichungswelle von geheimen Mitschnitten geraten Erdogan und seine Partei immer mehr in Erklärungsnöte.

Fingierten Anlass für Syrien-Kriegsgang diskutiert
Ein am Donnerstag auf YouTube hochgeladenes Audiodokument traf die AKP schließlich bis ins Mark. Bei dem neuen Material handelt es sich um angebliche Mitschnitte von Beratungen über Wege zu einem möglichen Militäreinsatz in Syrien. Während Korruptionsvorwürfe in der Türkei nichts Neues sind, könnte ein fingierter Anlass für einen Kriegsgang das Blatt bei den Kommunalwahlen und den nachfolgenden Wahlgängen wenden. In der Aufnahme beraten mehrere Männer - mutmaßlich der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu und Vertreter von Geheimdienst und Militär - über einen Militäreinsatz in Syrien und ob notfalls ein rechtfertigender Grund dafür geschaffen werden könnte.

Premier Erdogan als Auftraggeber eines Sexvideos?
Nach der Veröffentlichung des Mitschnitts schäumte Davutoglu und sprach von einer "Kriegserklärung an die Türkische Republik". Die Täter würden mit den härtesten Strafen belegt, sollten sie gefasst werden. Die türkische Medienaufsicht verhängte eine Nachrichtensperre für die Ausstrahlung des Gesprächs, YouTube wurde - wie zuvor bereits Twitter - blockiert. Nur zwei Tage zuvor erschien auf YouTube ein Video, das Erdogan als Auftraggeber eines Sexvideos von Ex-Oppositonsführer Deniz Baykal nahelegt. In den heimlich mitgeschnittenen Gesprächen aus dem Jahr 2010 soll Erdogan dessen Veröffentlichung veranlasst haben.

Urheber des brisanten Clips bis heute nicht bekannt
Der Chef der kemalistischen Oppositionspartei CHP, Deniz Baykal, stolperte vor vier Jahren über dieses Sexvideo, das seine außereheliche Affäre publik machte. Bereits damals beschuldigte er die Regierung als Drahtzieher der Aktion. Der nunmehrige CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu verglich die Affäre gar mit dem "Watergate"-Skandal in den USA. Andere gingen davon aus, dass Baykal von parteiinternen Gegnern bloßgestellt wurde, die ihn loswerden wollten. Er musste seinen Posten für Kilicdaroglu räumen. Bis heute sind die Nachforschungen über die Hintermänner bzw. Urheber des Videos im Sand verlaufen.

Softporno brachte Nationalisten in Schwierigkeiten
Im Mai 2011, wieder kurz vor einem Wahlgang, brachte ein heimlich aufgezeichneter Softporno mehrere hochrangige Mitglieder der Nationalistenpartei MHP in schwere Erklärungsnöte. Die Partei hatte Mühe, bei dem einen Monat später folgenden Urnengang im Parlament ihren Stimmenanteil zu halten. Beide Skandale nützten der islamisch-konservativen AKP. MHP-Chef Devlet Bahceli beschuldigte die religiöse Bewegung Gülens, hinter den pikanten Aufnahmen seiner Parteimitglieder zu stehen, ließ es aber an Beweisen fehlen.

"Parallelstrukturen im türkischen Staat" ausmerzen
Immer wieder haben in der Vergangenheit Videos und Telefonmitschnitte politische Gegner aus dem Rennen geworfen. Und immer wieder taucht die Gülen-Bewegung in Anklagen und Mutmaßungen auf. Diesmal stehen die AKP und Erdogan auf der Abschussliste. Dieser beschuldigt das Gülen-Netzwerk, die treibende Kraft hinter der "Verschwörung" gegen sich selbst und seine Regierung zu sein. Die Partei bemüht sich nun seit Bekanntwerden der Affäre, die "Parallelstrukturen im türkischen Staat" mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ausmerzen.

Loading...
00:00 / 00:00
Abspielen
Schließen
Aufklappen
kein Artikelbild
Loading...
Vorige 10 Sekunden
Zum Vorigen Wechseln
Abspielen
Zum Nächsten Wechseln
Nächste 10 Sekunden
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.

Kostenlose Spiele
Vorteilswelt