„A Christmas Carol“

Gespenster der Weihnachtszeit gestern und heute

Tirol
06.12.2025 17:00

Von Charles Dickens nebeligen Straßen des viktorianischen London bis zur Bühne in Telfs – warum wir in der hellsten Zeit des Jahres die Schatten aus dem Geisterreich suchen.

Ein eisiger Wind streicht über den Eduard-Wallnöfer-Platz in Telfs, wo Laternen wie schwache Sterne im Nebel glimmen. Der Duft von gebrannten Mandeln mischt sich mit dem Rauch der Feuerstellen – und irgendwo erklingt ein Chor, der alte Weihnachtslieder haucht; so zart, als kämen sie aus einer anderen Welt. Bald hebt sich der Vorhang im Rathaussaal, und die Geister der Weihnacht treten auf die Bühne.

„Scrooge“, das Musical nach Charles Dickens „A Christmas Carol“, ist mehr als eine Aufführung: Es ist eine Beschwörung. Acht ausverkaufte Vorstellungen im Advent 2025 – ein Triumph für Produzent Marc Hess, der die Essenz des Originals bewahrt: keine grellen Effekte, sondern die stille Macht der Erlösung. Doch warum kehren wir immer wieder zu dieser Geschichte zurück?

Der viktorianische Weihnachtsmarkt am Eduard-Wallnöfer-Platz in Telfs.
Der viktorianische Weihnachtsmarkt am Eduard-Wallnöfer-Platz in Telfs.(Bild: Mathias Brabetz Photography)

Die Geburtsstunde der Geistergeschichten 
Warum suchen wir in der hellsten Zeit des Jahres die Schatten? Um das zu verstehen, müssen wir die Tür zu einer anderen Epoche öffnen und eintreten in das viktorianische England. Londons Straßen sind von bleigrauem Dunst umhüllt, Gaslaternen werfen schwaches Licht auf Pflastersteine, die vom Regen glänzen. Hinter schweren Vorhängen knistern die Feuer, während draußen die Kutschen durch die Nacht rollen. Die industrielle Revolution hat die Welt erhellt – und zugleich verdunkelt. Fortschritt und Elend gehen Hand in Hand, und die Menschen sehnen sich nach Geschichten, die Wärme und Schauer zugleich bringen.

Charles Dickens erkennt diese Sehnsucht. Mit „A Christmas Carol“ erschafft er 1843 nicht nur eine Erzählung, sondern eine moralische Beschwörung. Die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht sind keine bloßen Spukgestalten – sie sind Gewissen, Mahnung und Hoffnung. Als der Geist des verstorbenen Marley Scrooge warnt, dass „die Ketten, die er trägt, selbst geschmiedet sind“, hören wir das Klirren der Schuld. Und wenn Scrooge am Ende erkennt, „dass Weihnachten nicht Humbug ist, sondern Herz“, dann ist das mehr als ein Happy End – es ist eine Offenbarung.

Anno 1843

veröffentlichte Charles Dickens seine bekannte Erzählung „A Christmas Carol“. Das Werk stellt Kritik an sozialer Ungerechtigkeit und Armut im viktorianischen England dar und hat bis heute Einfluss auf die Vorstellung von Weihnachten.

Die Meister des gehobenen Schauderns 
Dickens war nicht allein. Autorinnen wie Elizabeth Gaskell und Mary Elizabeth Braddon sowie Erzähler wie Sheridan Le Fanu und später M.R. James machten die Geistergeschichte zum festen Bestandteil der viktorianischen Kultur. Dickens Werk war revolutionär: Es verband soziale Botschaft, moralische Läuterung und übernatürliche Elemente in einer Erzählung, die bis heute nachhallt. „A Christmas Carol“ ist nicht nur eine Weihnachtsgeschichte – es ist ein Kommentar zur Menschlichkeit in einer Welt des Wandels.

Von der viktorianischen Stube zur Tiroler Bühne 
Dass diese Tradition bis heute lebendig ist, zeigt das Musical in Telfs. Während draußen ein viktorianischer Weihnachtsmarkt die Besucher in eine andere Zeit versetzt, entfaltet sich auf der Bühne die zeitlose Geschichte von Schuld und Erlösung. Die Musik trägt die Emotionen, die Kostüme den Geist des 19. Jahrhunderts – und die Botschaft bleibt dieselbe: Menschlichkeit ist das größte Geschenk.

Warum wir heute noch immer zittern
Die viktorianische Geistergeschichte war nie bloß Unterhaltung. Sie war ein Spiegel der Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft im Umbruch. Dickens „A Christmas Carol“ ist deshalb so zeitlos, weil es eine universelle Wahrheit berührt: Menschlichkeit entsteht oft erst im Angesicht der eigenen Schatten.

Im 19. Jahrhundert war der „Flüsterton der Geister“ eine Antwort auf die Kälte der Industrialisierung. Heute, in einer Welt der Algorithmen, sehnen wir uns geradezu nach derselben Wärme – nach Geschichten, die uns daran erinnern, dass Fortschritt ohne Mitgefühl leer bleibt. Wir suchen noch immer nach dem Flüstern im Dunkeln – und finden es, wenn die Geister singen.

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