Giftschlamm-Drama

Zwei Jahre danach: Opfer warten weiter auf Gerechtigkeit

Ausland
01.10.2012 14:11
Zwei Jahre nach der Giftschlamm-Katastrophe in Nordungarn sitzt den Bewohnern der betroffenen Orte der Schock noch immer in den Gliedern. Es haben zwar alle wieder ein Dach über dem Kopf, auf eine vollständige Aufarbeitung der Causa und entsprechenden Schadenersatz warten sie aber noch immer. Ein Strafprozess gegen 15 Mitarbeiter der Aluminiumfabrik MAL AG hat erst vor Kurzem begonnen, der Industriebetrieb scheint indes auch mit seinen neuen Arbeitsmethoden keine Rücksicht auf die Gesundheit der Anrainer zu nehmen.

Kolontar, 4. Oktober 2010, 12.25 Uhr: Frau Nikoletta hängt im Garten Wäsche auf. Ihr Haus steht in der Malom-Straße, nur wenige Meter vom Damm der Aluminiumfabrik MAL AG in Ajka entfernt. "Die Hunde fingen plötzlich wild an zu bellen, und ich sah eine meterhohe rote Welle auf mich zurasen. Ich rettete mich auf den Dachboden, wusste nicht, was geschah."

Die 40-Jährige erinnert sich an jenen Tag, an dem der Damm brach und rund eine Million Kubikmeter hochgiftiger und ätzender Rotschlamm das Dorf Kolontar und die Kleinstadt Devecser überschwemmten. Ohne Vorwarnung wurden die Menschen aus ihrem Alltag gerissen. Die Bilder der Tragödie gingen um die ganze Welt.

Gedenktafeln und rote Grundstücksmauern erinnern
Die toxische Sintflut floss meterhoch über die Landschaft, durch die Häuser, hinterließ eine Spur der Verwüstung und forderte das Leben von zehn Menschen. Mehr als 200 wurden verletzt, 300 verloren ihre Häuser. Nicht auszudenken, hätte sich die Katastrophe in der Nacht ereignet, erinnerten Rettungskräfte, die aus ganz Ungarn und dem Ausland anrückten. Sie bargen die Opfer, suchten nach weiteren Verschollenen, standen wochenlang im Gift. Während sich ihre weißen Schutzanzüge blutrot färbten, versuchten sie zu retten, was noch zu retten war. Auf 40 Quadratkilometer rund um Kolontar wurde der Notstand ausgerufen. Boden und Flüsse wurden verseucht, Häuser abgerissen, neue auf Staatskosten errichtet.

Die ungarische Website "Origo" zeigt in einer Bilderstrecke Impressionen vom "renovierten" Kolontar und Devecser. Die rostroten Felder sind grünen Wiesen gewichen, vielerorts erinnern Gedenktafeln an die Katastrophe. Dort wo die Schlammwelle ganze Gassen planierte und Häuser niederriss, wurde in Devecser ein Park mit Biotopen errichtet. In beiden Orten zeigen noch viele bis zur Hälfte rostrot eingefärbte Grundstücksmauern, wie hoch hier einst der Giftschlamm stand.

Alle Opfer haben wieder ein Dach über dem Kopf
Zwei Jahre nach der Katastrophe haben alle Betroffenen ein Dach über dem Kopf, erklärt Tamas Toldi, Bürgermeister von Devecser, und bedauert, dass 60 Familien nach der Tragödie die Kleinstadt verlassen haben und sich anderswo eine neue Heimat suchten. Doch auch "Rückkehrer" gebe es, die keine Angst mehr hätten vor gesundheitlichen Risiken, erklärt der Bürgermeister und präsentiert stolz die neue Siedlung: 90 moderne Häuser stehen auf einer sicheren Anhöhe (siehe Bilder oben).

Nicht alle Menschen könnten "das Trauma der Katastrophe" verarbeiten, sagt Toldi. Sie würden von Psychologen betreut - bis heute. Der Bürgermeister berichtet von Straßenbau und neuer Kanalisation, der Ansiedlung neuer Unternehmen, die den Standort Devecser attraktiver machen sollen. Auf 20 Hektar würden bereits Energiepflanzen angebaut, die der Gaserzeugung dienen.

In Kolontar bereitet Bürgermeister Karoly Tili die Veranstaltung zum Gedenken an den zweiten Jahrestag der Tragödie vor. "In unser Dorf ist die Ruhe zurückgekehrt", betont Tili. Alle Bürger, die die Giftflut obdachlos gemacht hatte, hätten ein schönes neuen Zuhause in dem neuen Wohnpark, seien entschädigt worden. "Ja, sie wohnen in einem neuen Haus - fühlen sich aber nicht immer zuhause." Belastend sei für die Menschen auch, dass nach zwei Jahren noch kein Verantwortlicher für die Katastrophe genannt worden sei.

Familie verlor alles, bekam aber nie Bargeld
Auf ein Gerichtsurteil wartet auch Melinda Holczer und ihre Familie. Sie wohnten in der Malom-Straße in Kolontar und verloren alles. Die 40-Jährige führt einen Schadenersatzprozess gegen die MAL AG. Bislang erfolglos. Kritik übt sie auch an der staatlichen Hilfe. Die Behörde verweigerte die Zahlung von Bargeld angeblich, da die "Empfänger das Geld verspielen würden". Das sei empörend, betont die Mutter von zwei Kindern. Sie hätten zwar ein Haus in Kislöd unweit von Kolontar erhalten, aber ansonsten keinerlei Geld, um das entsprechende Inventar oder um Kleidung zu kaufen.

Auch die Entschädigung für das Grundstück in der Malom-Straße stünde noch aus. Ihre Eltern, deren Haus in Kolontar durch die Schlammkatastrophe beschädigt wurde, hätten nur 200.000 Forint (702 Euro) Schadenersatz erhalten. "Eine lächerliche Summe", kritisiert Melinda Holczer. "Da wir uns wehren, sind wir unbeliebt." Beim offiziellen Gedenken am ersten Jahrestag der Katastrophe sei vor ihrem ehemaligen Haus in der Malom-Straße keine Kerze angezündet worden, erinnert sich die Porzellanmalerin.

Prozess gegen Fabrikschef und Mitarbeiter
In Veszprem hat vor wenigen Tagen, am 24. September, ein mit großer Aufmerksamkeit verfolgter Prozess begonnen. 15 Mitarbeiter der MAL AG sitzen auf der Anklagebank – zur Zeit der Umweltkatastrophe in Westungarn allesamt in verantwortungsvoller Stellung. Hauptangeklagter ist der Generaldirektor des Unternehmens, Zoltan Bakonyi. Er hatte nach dem Unglück die Giftschlammkatastrophe bagatellisiert: Der Schlamm sei doch nur eine "verdünnte Masse, in der man natürlich nicht baden sollte". Und wer mit dem Schlamm in Berührung käme, der könne diesen "leicht abwaschen, und es wird keine bleibenden Schäden geben".

Mehr als 200 Verletzte, meist Opfer mit schweren Verätzungen, widersprechen dieser Behauptung. Der Staatsanwalt fordert nun Freiheitsstrafen für alle Angeklagten. Der schwerste Vorwurf lautet auf fahrlässige Tötung. Die Angeklagten lehnen jedoch jegliche Verantwortung für die Tragödie ab, deren Auslöser eine Naturkatastrophe gewesen sein soll. Eine von der ungarischen Umweltbehörde verhängte Strafe in der Höhe von 135 Milliarden Forint (473,87 Millionen Euro) wurde durch einen Gerichtsbeschluss wieder aufgehoben. Begründung: Die hohe Strafe hätte zum Bankrott der Firma geführt, die rund 6.000 Menschen beschäftigt.

Eine Tafel am Kriegerdenkmal in Kolontar erinnert an die Tragödie mit der Inschrift: "Für die Umwelt- und Menschenopfer menschlichen Leichtsinns und Geldgier." Die Bürger des Ortes verfolgen den Prozess gegen die MAL AG mit großer Aufmerksamkeit. Das Ehepaar Szabo wartet auf ein schnelles Urteil und eine Entschädigung seitens der Aluminiumfabrik: "Uns ist nichts geblieben, das Ergebnis unserer Arbeit von 46 Jahren – alles hat die Giftflut zerstört."

Schlamm wird jetzt getrocknet - und verbreitet sich im Wind
Laut dem zuständigen Parlamentsabgeordneten Jozsef Ekes würden die Menschen der Region heute in größerer Sicherheit leben, da das Aluminiumwerk seine Produktionsweise umgestellt habe und den Produktionsabfall nicht mehr in flüssiger, sondern in trockener Form lagere. Durch die Giftschlammwalze ging eine landwirtschaftliche Nutzfläche von bis zu 1.000 Hektar verloren. Heute können dort nur noch Pflanzen für die Energieproduktion angebaut werden, kein Brotgetreide oder Tierfutter. Das giftige Gemisch aus Schwermetallen floss aber auch in den nahe gelegenen Fluss Marcal, wo Fische zu Tausenden verendeten.

Aus giftigem Schlamm wurde schließlich giftiger Staub, unter dem die Menschen auch zwei Jahre danach noch leiden. Die MAL AG entwickelte zwar ein System, das die Staubentstehung verhindern soll. Doch laut Bürgermeister Tili werde sich erst bei starkem Nordnordwestwind zeigen, ob es erfolgreich sei. "Ich bin skeptisch, da auf der Route der Lastwagen nach wie vor Staub entsteht." Lkws transportieren nach wie vor verseuchten Boden in die Fabrik. Im Internet veröffentlichte Fotos zeigen an einem stürmischen Tag unweit der Fabrik rostrote Staubwolken und beträchtliche Mengen roten Sandes am Straßenrand.

Für Jozsef Varga, Sprecher des Vereins der Geschädigten der Rotschlamm-Katastrophe, ist die Staubkonzentration in der Region sichtbar kleiner geworden. Die oppositionellen Grünen, LMP, wiederum sprechen von einem r Speicher verwendet würde. Die LMP zitierte Angaben aus Spitälern in Ajka und Tapolca, denen zufolge sich in der Region Krankheiten der Atemwege wegen der "extremen Staubverschmutzung" sehr wohl erhöht hätten.

Greenpeace vermisst Anklage gegen Behördenvertreter
Auch Greenpeace Ungarn sieht das Problem der hohen Staubbelastung nicht gelöst. Gergely Simon: "Der Staub ist toxisch belastet, also gesundheitsschädigend. Noch dazu schürfen die Transport-Firmen, die nach Tonnen des abgefahrenen verseuchten Bodens bezahlt werden, viel zu tief und vernichten damit auch gute Muttererde."

Kritik übt Simon auch am Prozess. "Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Es stehen nur Mitarbeiter der MAL AG vor Gericht, nicht aber Vertreter der Behörden, die durchaus Verantwortung tragen. Denn diese haben jahrelang der Aluminiumfabrik die Genehmigung zur Produktion erteilt. Noch zwei Wochen vor der Katastrophe hat die Umweltbehörde bei einer Kontrolle keinerlei Einwände vorgebracht." Am 4. Oktober 2010 rollte die tödliche Welle über das Land, tötete zehn Menschen und vernichtete Hunderte Existenzen.

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