Netz-Hype aus Kanada

Mother Mother: TikTok hilft den Indie-Band-Boomern

Musik
17.02.2024 09:00

Eineinhalb Dekaden spielten die kanadischen Indie-Rocker Mother Mother für ein überschaubares Publikum - dann pulverisierte die Cosplay- und Gothic-Fraktion die Band in lichte Sphären. Vier Jahre nach dem großen Hype ist eine gewisse Beständigkeit eingekehrt, die in gutklassiger Musik, wie dem neuen Album „Grief Chapter“ resultiert. Das Internet hat für Musiker auch seine guten Seiten.

(Bild: kmm)

Der Verkauf von physischen Tonträgern geht zunehmend zurück. Der kurze Hype um Vinyl wird langsam wieder eingeebnet und das schwarze Gold rechnet sich derzeit eher wegen der hohen Preise als wegen der verkauften Mengen. Zudem sind nur die allergrößten Bands so wirkmächtig, dass sie vom Livegeschäft üppig leben können. All das sind bei Weitem keine Neuigkeiten, sondern Hard Facts und deprimierende Bestandsaufnahmen einer Musikindustrie, die sich seit mehr als 20 Jahren sukzessive selbst abschafft. Aber bei all den Hypes um Streamingplattformen und dem Problem mit der ungerechten Entlohnung für Künstler gibt es jene, denen der Paradigmenwechsel mehr als zuträglich war. In diesem Sinne: Vorhang auf für Mother Mother. Das kanadische Indie-Art-Rock-Kollektiv, angeführt vom Geschwisterpaar Ryan und Molly Guldemond, war bereits sieben Studioalben und 15 Bandjahre alt, als sie inmitten der Hochzeit der Corona-Pandemie förmlich explodierten.

Was ist das überhaupt?
Auf TikTok wurden plötzlich Songs ihres 2008er-Albums „O My Heart“ gestreamt und millionenfach geteilt. Tracks wie „Hayloft“, „Arms Tonite“ oder „Burning Pile“, mit denen man kaum über die nordamerikanischen Kontinentsgrenzen hinausstrahlen konnte, wurden plötzlich zu globalen Hits. In der Cosplay- und Gothic-Fasion-Szene waren Mother Mother blitzartig salonfähig, ihre Fans im Sektor der nicht-binären Personen multiplizierte sich um ein Vielfaches. „Manche dieser Songs haben sich schon 2020 angefühlt, als wären sie aus einem anderen Leben“, lacht Molly im Gespräch mit der „Krone“, „zuerst haben wir uns ja gefragt, was TikTok überhaupt ist. Dann haben wir uns in die Plattform eingearbeitet und angefangen, mit diesen tollen neuen Fans Kontakt aufzunehmen.“ Mother Mother wurden im bereits gediegenen Alter zur „Overnight Sensation“. Solche Geschichten schreibt tatsächlich nur das Internet.

„Wenn du an Wunder glaubst, dann kannst du das als eines bezeichnen“, pflichtet Ryan Guldemond bei, „wir haben heute noch keine Ahnung, wie wir die Spur zu diesem Hype zurückverfolgen sollen. Das macht das Ganze aber auch schön, weil es so mysteriös ist. Es passierte nichts aus einem vorkalkulierten Marketingplan heraus, sondern Menschen haben die Songs gefunden. So, wie es früher einmal war.“ Mit einem TikTok-Hype lassen sich mittlerweile saftige Früchte ernten. Im Fall von Mother Mother wurde etwa 2022 die Chance in Angriff genommen, die großen Imagine Dragons als Supportband auf ihrer üppigen Europatour zu unterstützen. Die mit Abstand denkwürdigsten Gigs ihrer Karriere, die direkt Einfluss auf das brandneue, neunte Studioalbum „Grief Chapter“ hatten. So ist der Song „The Matrix“ direkt von den damaligen Konzerten inspiriert, die für die Band die ultimative Freiheit bedeuteten. „Es ist eine nonkonforme Hymne, die dir sagt, dass du das Leben genießen und nicht in der ,9-to-5-Matrix‘ leben sollst - sterben müssen wir schließlich alle.“

Elementarer Erfolg
Mother Mother haben nach knapp 20 Jahren Karriere genug Routine, um sich von den plötzlich aufgepoppten Verheißungen nicht verblenden zu lassen. „Erfolg bedeutet uns in erster Linie, dass wir unsere Zeit mit etwas verbringen können, das wir lieben und das uns große Freude bereitet. Das Geld sorgt dann noch dafür, dass wir unsere Zeit zu 100 Prozent darauf konzentrieren können. Dass wir seit einiger Zeit von unserer Kunst leben können und nicht mehr auf Jobs angewiesen sind, ist für mich eigentlich schon die elementare Definition von Erfolg“, philosophiert Molly, spürbar erfreut, wie sich die Dinge in den letzten Jahren entwickelt haben. Ihr neues Album „Grief Chapter“ hätte den leichten Weg gehen und auf die gehypten TikTok-Songs aufspringen können. Stattdessen zitiert man die eigene Vergangenheit nur marginal und entwickelt sich im ohnehin recht kruden Klangkosmos auf typische Mother Mother-Art natürlich weiter.

„Das ist doch das Schöne an Kreativität“, lacht Ryan, „wir lösen uns von uns selbst und schreiben in einem freien Raum. Wir wollen weder unsere Wurzeln und die alten Songs vergessen, noch den Spaß am Songschreiben verlieren. Man kann sich selbst nicht reproduzieren, auch wenn das viele versuchen. Wenn man in diesem Business garantiert keinen Erfolg haben will, dann legt man sich am besten eine Erfolgsformel zurecht.“ „Grief Chapter“ verarbeitet zwar das titelgebende Thema Trauer, geht dabei aber Mother Mother-typisch verquer vor. Es gibt jazzige Saxofon-Ausritte, treibende Arcade Fire-Indie-Momente oder schräg-poppige Verquerungen, die zwischendurch jegliche Form von logischer Nachvollziehbarkeit von vornherein über Bord werfen. Zuweilen sind Mother Mother richtiggehend anstrengend und ganz sicher nichts für den konsensliebenden Formatradiohörer. „Wir arbeiten in unterschiedlichen Genres, mit unterschiedlichen Stimmen und Klängen“, so Molly, „nicht zuletzt die Fanbase aus dem Netz hat uns das OK dazu gegeben, entgegen aller Vorlagen und Formeln zu musizieren. Sie hören Songs, die unterschiedlich klingen - das ist ein Geschenk.“

Das Leben ist ein Witz
So schräg und schwierig Mother Mother zuweilen auch musizieren, sie tragen ihr Herz stets auf der Zunge. Es geht um gesellschaftspolitische Themen wie Drogen- und Alkoholmissbrauch, mentale Probleme, Unsicherheiten, Ängste, fehlenden Zusammenhalt. „Der Satz ist abgedroschen, aber die Musik ist für mich wie Therapie“, so Molly, „ich kreiere etwas aus meinen Emotionen und kann sie dadurch im Stillen mit anderen teilen. Die schönste Sache der Welt ist, wenn deine eigene Musik anderen hilft, durch schwierige Lebenssituationen zu kommen. So eine Macht hat nur die Musik.“ Die Nähe zu ihren Fans hat sich durch TikTok noch intensiviert. Wie schon in „The Matrix“ angeschnitten, geht es ihnen vor allem um eine gewisse Leichtigkeit im Dasein. „Das Leben ist ein einziger Witz. Humor und Tragödie gehen Hand in Hand und wir sind mittendrin. Egal durch welche Krisen du schreitest, in 99 Prozent der Fälle ist alles nicht so schlimm, wie es scheint. Es ist doch schön, in diesem Witz zu leben, die Reise zu genießen und auf die nächste Punchline zu warten.“

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