Gift-Flut in Ungarn

WWF warnt vor Dutzenden weiteren Schlamm-Becken

Ausland
06.10.2010 10:24
Nach dem Bruch eines Giftschlammbeckens in einer Aluminiumfabrik in Westungarn und weiträumigen Überschwemmungen ist das Ausmaß der Zerstörung immer noch nicht abzusehen. Die Zahl der Todesopfer könnte auf zehn steigen, denn sechs ältere Personen, die als vermisst gelten, dürften unter den Schlammmassen ums Leben gekommen sein, hieß es am Mittwoch. Mittlerweile ist ein 500 Mann starker Aufräumtrupp angerückt, die überschwemmte Gegend könnte aber für Jahre verseucht bleiben. Der WWF warnt indes vor Dutzenden weiteren übervollen Schlammbecken in Ungarn.

In drei Ortschaften, vor allem in Kolontar, hat die giftige Schlammlawine am Dienstag unvorstellbare Verwüstungen angerichtet. Hausrat und Autos wurden bis zu zwei Kilometer entfernt in Feldern gefunden. Die Aufräumarbeiten gestalten sich als schwierig. Augenzeugen zufolge stand der Schlamm stellenweise auch am Mittwoch noch einen Meter hoch im Dorf.

"Leute sind sofort auf das Dach geflohen"
Von dem Giftschlamm-Unfall waren auch Mitarbeiter eines bekannten burgenländischen Baustoffunternehmens betroffen. Geschäftsführer Michael Leier hat rund 20 Bedienstete zu den Aufräumarbeiten im Dorf Devecser abgestellt. "Die Leute dort sind sofort auf das Dach geflohen, weil das Wasser bis zu über einen Meter gekommen ist", berichtete Leier am Dienstag von den Ereignissen.

"Wir haben das Glück, dass wir auf der anderen Seite von Devecser sind. Aber natürlich sind Mitarbeiter von uns betroffen", so Leier. "Wir haben sofort, als wir gehört bzw. gesehen haben, was da passiert, den größten Bagger, den wir haben, hingeschickt und versucht zu helfen." Man habe die Leute mit dem Bagger von einem Tankstellendach geborgen, erzählte Leier.

"Das Gebiet ist größtenteils gesperrt, Rettungsmannschaften, Polizei und Militär sind da. Man kann sich vorstellen, welche Hektik hier herrscht. Es ist so, das die Leute im Großen und Ganzen überrascht waren von der ganzen Situation", meinte Leier am Dienstag.

Dutzende "tickende Zeitbomben" in Westungarn?
Die Anzeichen, dass Fahrlässigkeit zu der Katastrophe geführt hat, mehren sich. Laut Umweltexperten war das Giftschlammbecken der MAL AG deutlich über die Norm gefüllt. Statt 300.000 Kubikmeter dürften rund eine Million Kubikmeter Schlamm gelagert worden sein.

Und es dürfte nicht das einzige derartig überfüllte Becken sein: Laut WWF gebe es noch weitere giftige Depots im Donauraum, die teilweise sogar verlassen und ungesichert seien. In Gesamtungarn befänden sich Reservoire mit einem geschätzten Gesamtvolumen von 50 Millionen Kubikmetern. Eines dieser Becken sei bei Almasfuzito direkt an der Donau angesiedelt und würde bei einer ähnlichen Katastrophe den Fluss praktisch vernichten.

Mahnende Kritik gibt es dahingehend auch in der ungarischen Presse. "Die Geschehnisse sind die Folge der jahrzehntelangen Verantwortung - und natürlich Verantwortungslosigkeit - der politischen Kaste", heißt es in einem Kommentar in der Budapester Zeitung "Nepszabadsag". Die ungarischen Kommentatoren kritisieren auch, dass die Abfälle der in den 90er-Jahren privatisierten ungarischen Aluminiumindustrie nahezu bedenkenlos unter freiem Himmel gelagert werden. Die Politik habe es versäumt, strengere Vorschriften zu erlassen und - wie etwa in der Schweiz, Österreich oder Großbritannien - eine Deponiesteuer einzuführen.

Behörden relativieren, WWF befürchtet Langzeitschäden
Die Behörden versuchen indes aber, das Ausmaß der Giftschlamm-Welle zur relativieren. Ein Regierungssprecher sagte am Mittwoch, das aus dem geborstenen Becken ausgetretene Material sei zwar toxisch und könne sowohl "Haut- als auch Augenirritationen" hervorrufen. Es sei jedoch nicht radioaktiv und enthalte kein Zyanid. Ein Vertreter der Aluminiumfabrik der MAL AG, die am Dienstag vorerst ihren Betrieb einstellen musste, meinte, dass der Schlamm in der Europäischen Union nicht als gefährlicher Abfall gelte.

Die im Industriesprech "Rotschlamm" genannte Giftbrühe ist ein Überbleibsel aus der Aluminiumgewinnung: Abgebautes Bauxit wird mittels Natronlauge "aufgebrochen" - das dadurch gewonnene Aluminium wird abgefiltert. Der übrigbleibende Schlamm (PH-Wert 13) enthält extrem ätzende Stoffe, die für Menschen lebensgefährlich sein können - Quecksilber, Blei und Kadmium sowie auch Arsen und Chrom.

Der WWF befürchtet darum "verheerende Langzeitschäden". Der Fluss Marcal in der Region sei bereits tot. Laut WWF sei das ausgeflossene Material sehr wohl "leicht radioaktiv", weshalb die Behörden bereits 500 bis 600 Tonnen Gips zur Bindung in den Fluss geschüttet hätten. Die Umweltkatastrophe sei "beispiellos in der ungarischen Geschichte".

Die MAL AG beschreibt in einer Stellungnahme auf ihrer Website die Zusammensetzung des "nicht gefährlichen" Rotschlamms hingegen wörtlich wie folgt: "Fe2O3 (Eisenoxid) 40-45 % das gibt die Farbe des Rotschlammes, Al2O3 (Aluminiumoxid) 10-15 %, SiO2 (Siliziumdioxid) 10-15 % vorhanden ist als Natrium- oder Kalziumaluminiumsilikat, CaO (Kalziumoxid) 6-10 %, Tio2 (Titandioxid) 4-5 %, Na2O (gebundenes Natron) 5-6 %."

Greenpeace sieht Grundwasser und Umland in Gefahr
Laut der Umweltorganisation Greenpeace könnte der toxische Rotschlamm nicht nur ins Grundwasser sickern und dieses vergiften, sondern in getrocknetem Zustand viele Kilometer weit verfrachtet werden. "Wenn der Giftschlamm trocknet, kann er durch Wind zu nahe gelegenen Siedlungen in einem Radius von zehn bis fünfzehn Kilometern transportiert werden."

Greenpeace will ein Team nach Kolontar und nach Devecser schicken. Ziel sei es, Proben zu nehmen und sich ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe zu machen sowie diese zu dokumentieren", so Zsolt Szegfalvi, Leiter von Greenpeace Ungarn.

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