Historiker-These:

Kriege und Seuchen sind Motor für Gleichheit

Wissenschaft
27.03.2017 13:25

Gemeinhin gelten heutzutage mehr Bildung und Sozialpolitik als wirkungsvolles Mittel gegen ein Auseinanderdriften von Arm und Reich. Ganz anders sieht das der österreichische Historiker Walter Scheidel, der in seinem neuen Buch zu dem Schluss kommt, dass es über Jahrtausende hinweg vor allem Kriege, Seuchen und Naturkatastrophen waren, die für mehr Gleichheit gesorgt haben.

Natürlich helfen die historisch relativ neuen Instrumente der Qualifizierung durch Bildung und sozialpolitische Maßnahmen dabei, das bestehende Ausmaß an ungleicher Verteilung von Einkommen und Gütern einigermaßen im Zaum zu halten, sagte Scheidel im Gespräch mit der APA. "Aber wenn es darum geht, einen bestehenden Grad an Ungleichverteilung deutlich zu vermindern, dann funktioniert das nicht so gut. Dafür braucht es - aus historischer Sicht - dramatischere Veränderungen."

Wenig Widerspruch in der Forschergemeinde
Im Grunde könne man auch das breitere Ausrollen höherer Bildung und der Sozialpolitik als Reaktion auf die "gewaltsamen Schocks" der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen, so Scheidel, der als Professor an der Stanford University in Kalifornien lehrt. Seine in Buchform unter dem Titel "The Great Leveler" publizierte Analyse zieht aktuell viel mediale Aufmerksamkeit auf sich und stößt erstaunlicherweise auf wenig Widerspruch in der Forschergemeinde.

Seine Schlüsse zieht der 1966 in Wien geborene Historiker und Numismatiker aus Beobachtungen über sehr lange Zeiträume hinweg: "Das hat bisher noch niemand gemacht", sagt Scheidel. "Wenn man sich das aber über solche Perioden ansieht, erkennt man einen Rhythmus", erläutert Scheidel. Die Ungleichheit steige langsam an oder sei auf hohem Niveau stabil. Ab und zu gebe es dann eine Art Neustart - eben durch Krieg, Seuchen oder Naturkatastrophen.

"Das drückt die Ungleichheit sehr stark und oft sehr plötzlich hinunter. Wenn dieser Effekt verschwindet, kehrt man wieder zum ursprünglichen Trend der wachsenden Ungleichheit zurück. Das hat sich in Europa schon mehrfach wiederholt", so der Historiker, der als Beispiel die Zeit vor und nach der Französischen Revolution anführte.

Ungleiche System bleiben oft lange bestehen
Angesichts dessen werde auch klar, wie lange sehr ungleiche Systeme bestehen bleiben können. Denn in anderen europäischen Ländern war die Ausgangssituation nicht unbedingt anders - Revolution fand beispielsweise im Habsburgerreich trotzdem keine statt. Der Zusammenbruch und gleichzeitig der Beginn einer größeren Veränderung Richtung materiellem Ausgleich kam erst mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges.

Ausnahmen von dem von Scheidel identifizierten überraschend simplen Mechanismus seien überraschend rar: So habe sich in Teilen Lateinamerikas die Einkommenungleichheit ungefähr seit dem Jahr 2000 ohne großen Krach verringert. Allerdings war die Ungleichheit davor in der Region schon extrem hoch. Unter solchen Bedingungen ließen sich auch mit "relativ bescheidenen Reformen" bereits sichtbare Verbesserungen erzielen. Das gebe zwar Hoffnung, ob der Weg in der Region weiter gegangen wird, sei momentan aber fraglich.

In Europa nimmt die Ungleicheit wieder zu
Europa habe sich in den vergangenen Jahrzehnten durch gesellschaftspolitische Umverteilungen in einer Phase relativer Gleichheit befunden, "jetzt sind wir vielleicht schon auf dem aufsteigenden Pfad", vermutet der Historiker. In den USA habe sich die Ungleichheit in der letzten Generation mittlerweile verdoppelt. Dort sprechen viele schon davon, dass die Schieflage mittlerweile mit den 1920er-Jahren vergleichbar ist - wenn auch auf insgesamt weit höherem Niveau.

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