Ronan Harris bewegt sich mit seinem Elektronik-Projekt VNV Nation seit mehr als drei Jahrzehnten zwischen Mensch und Maschine. Auf seinem neuen Album „Electric Sun“ beleuchtet er eine dystopische Zukunft, die wir uns in der Gegenwart bereits erschaffen. Ein Gespräch über künstliche Intelligenz, Furzkissen-Apps und fehlendem Altruismus.
Wenn er ganz in Schwarz gekleidet, mit Stoppelglatze und freundlicher Ausstrahlung auf der Couch sitzt, hat Ronan Harris so absolut gar nichts mit einem Rockstar gemein. Das Rockstartum ist dem gebürtigen Iren auch völlig fremd, denn mit seinem elektronischen Future-Pop-Projekt VNV Nation geht es ihm seit mittlerweile 33 Jahren darum, neue Soundwelten zu erobern, sich in einen klanglichen Orbit zu flüchten und dabei gleichermaßen aktuelle, wie auch futuristische Themen in den Mittelpunkt zu rücken. Bei seinen Österreich-Konzerten in Wien und Graz Anfang April spielte Harris bereits Songs seines brandneuen Albums „Electric Sun“, obwohl das erst dieser Tage veröffentlicht wurde. Für ihn kein Problem. „Das habe ich 2000 mit dem Album ,Burning Empires‘ auch schon so gemacht. Warum auch nicht? Man hört ein paar Songs und freut sich auf das ganze Album.“
Keine Grenzen, nur Spaß
Die Entscheidung war dennoch semifreiwillig. Zuerst pfuschte ihm die Pandemie in den Veröffentlichungsplan, dann der Angriffskrieg auf die Ukraine und die Inflation. „Wir hatten schwere Produktionsprobleme und konnten unseren avisierten Zeitplan nicht halten. Teilweise wurden wir fünf Schritte zurückgeworfen.“ Fünf Jahre nach seinem letzten Album wagt Harris auf „Electric Sun“ aber eine ganz neue Herangehensweise. Jeder Song weist seine eigene Klangwelt auf, Vergleiche untereinander gehen ins Leere und der 55-Jährige hat sich endgültig von jeglichen Abgrenzungen und Schubladisierungen distanziert. „Ich habe mir während der Pandemie daheim ein Studio gebaut, war Hausmann und habe auf Familien und Nachbarn geachtet. Dabei habe ich viel Musik gehört und bei mir entstanden 87 Songs. Manche klingen nach Surf-Rock, andere nach Motown, andere sind orchestral. Keine Grenzen, sondern einfach nur Spaß.“
Wie gewohnt nimmt VNV Nation eine eher dystopische, mahnende Haltung ein. Der Ring auf dem Cover-Artwork symbolisiert ein dunkles Objekt und im Booklet zum Album ist genauer erläutert, dass die Menschen diesen Ring anbeten und von ihm gehirngewaschen werden. Die Ausrichtung geht eindeutig in Richtung künstlicher Intelligenz und wie sie sukzessive dabei ist, die Welt frappant zu verändern. „Es geht um einen düsteren und humorlosen Platz, an dem es keine Farben mehr gibt. Das Album ist eine Metapher dafür, dass wir die Technologie als unseren Gott betrachten und glauben, sie würde alles für uns machen. Wir bewegen uns gerade auf einem sehr dünnen Pfad und wissen nicht, wohin er führt.“ Dass der Ring einer Sonne ähnelt, ist kein Zufall. „Die Sonne ist die Wurzel unserer Energie und der Grund, warum es Leben gibt. Hätten wir aber die Möglichkeit, würden wir Menschen sie durch eine künstliche Sonne ersetzen, die man kapitalisieren kann.“
Mensch vs. Maschine
Harris arbeitete früher selbst jahrelang in der IT-Branche und fürchtet, dass der Menschheit gar nicht bewusst ist, welche Türen sie gerade öffnet. „Es geht weniger um die KI selbst, sondern mehr um die Art und Weise, wie kritiklos wir mit Dingen umgehen. Wir befinden uns in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Krieg und Konsum und alles, was wir erfinden, wird monetarisiert oder zur Waffe.“ Harris ist schwer davon überzeugt, dass schon 2024 die meiste Musik nicht mehr von Menschen geschrieben wird und eine Trendumkehr nicht mehr möglich ist. „In den 80er-Jahren waren wir so naiv, dass wir mit den technologischen Errungenschaften an eine bessere Zukunft glaubten. Der Fehler liegt immer beim Menschen und nicht der Maschine. Heute glauben Künstler, sie sind gut, wenn sie Technologie gut bedienen können. Das Talent sollte aber sein, gute Musik zu schreiben. Das Handwerk geht in unserer Welt immer weiter zurück. Irgendwann können wir uns nicht einmal mehr Tee machen. Will ich in so einer Welt leben? Definitiv nicht.“
Dass Software-Programme wie Midjourney oder ChatGPT gerade in aller Munde sind und die Grenzen der Realität bildlich und textlich verschieben, sei erst der Anfang. „Da gibt es viele andere Programme, die mir wesentlich mehr Sorgen bereiten. Alleingelassen kann es sich und seine Erschaffer manipulieren und ein Eigenleben entwickeln. Wir Menschen haben das nicht im Griff. Als wir 2007 mit den ersten iPhones die Welt veränderten, waren die drei erfolgreichsten heruntergeladenen Apps bei Apple Furz-Apps. Du kannst Menschen die ganze Bibliothek von Alexandria frei zugänglich machen, sie werden immer noch lieber über das Furzkissen lachen.“ Auf „Electric Sun“ beschäftigt sich Harris mit diesen Themenwelten und sorgt sich auch um die Oberflächlichkeiten und Fassaden, die wir uns antrainiert haben. „Ich rate mittlerweile jedem, sich in dieser Welt einen Platz zu suchen, der möglichst von Technologien entkoppelt ist. Unser Leben findet in jeder Hinsicht in einer Mikrowelle statt. Altruistisch gesehen könnten wir alles für eine bessere Welt tun, aber in der Realität kontrollieren wir uns lieber und führen uns zum Dauerkonsum. Momenten laufen wir dem Totalitarismus schneller entgegen, als wir vielleicht glauben.“
Alles ist möglich
Harris arbeitet zwar mit Elektronik und digital, verwendet selbst aber analoge Synthesizer und alte Maschinen. „Ich wollte immer neue Dinge lernen und habe die Grenzen stets eingerissen oder erweitert. Ich hatte Trance-Elektronik-Alben und welche, wo es viel Rock oder auch schon Metal gab. ,Electric Sun‘ vereint gleichermaßen die ruhigen, wie auch lauten Momente meiner Karriere. Es ist alles möglich und alles vorhanden, man muss nur in die Klangwelt eintauchen.“ Der seit 22 Jahren im norddeutschen Hamburg beheimatete Vollblutmusiker kann sich mit seiner Musik noch immer selbst überraschen. „Es gibt nichts Schöneres. Schon seit drei Alben geht es mir so, dass ich mich bei manchen Songs selbst nicht mehr erkenne. Wichtig ist, dass meine Musik immer einen menschlichen Charakter haben wird. Das Feld wird nicht der Technologie überlassen.“
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