Live in der Stadthalle

Kraftklub: Jetzt doch im Mainstream angekommen

Wien
20.11.2022 05:00

Rund 12.500 Fans versammelten sich Samstagabend in der Wiener Stadthalle, um ihren großen Helden Kraftklub zu huldigen. Die hatten mit „Kargo“ nicht nur ein brandneues Album im Gepäck, sondern auch so manch zukunftsweisende Botschaft. Ein Abend ganz im Zeichen von Gemeinschaft und Kritik am Establishment.

Komplette Freiheit muss man sich erarbeiten. Kraftklub gingen mit ihrem vierten Album „Kargo“ vor wenigen Wochen zum vierten Mal auf eins in den deutschen Albumcharts und es ist kein Ende des Erfolgs in Sicht. Nach mehr als zehn Jahren fulminanter Karriere mit stetig steigenden Zuschauerzahlen und immer größeren Hallen wundert sich auch niemand mehr, dass am neuen Album die immer noch uncoolen Tokio Hotel als Gäste auftauchten. Wer regiert, der kann - und Kraftklub regieren derzeit souverän. Im Schlussdrittel des Gigs in der Wiener Stadthalle merkt Frontmann Felix Brummer pathetisch an, dass man immer noch eine Liveband für Konzerte sei und nicht auf das Radio-Airplay schielen würde. 12.500 monatelang nach diesem Samstagabend dürstende Fans bestätigen es mit lautem Geschrei und lassen ein Meer an Bechern durch die Luft segeln. Schließlich sind „Randale“ angesagt und da darf schon mal der Unrat vom pickerten Stadthallen-Boden als Wurfgeschoss verwendet werden.

Zeit für Randale
Brummer ist das Sprachrohr der Generation Zukunftsangst. Auch wenn er selbst schon den 30er überschritten hat, sind Gestik und Gehabe ganz nah an den „Fridays For Future“-Kids. Dass er die umstrittenen und teilweise harschen Klimaproteste verteidigt und unterstützt, sorgt hier und heute für großen Jubel. „Wenn sich so überhaupt gar nichts verändert, dann ist es manchmal an der Zeit für ein kleines bisschen Randale.“ In ihren gewohnten Banduniformen - verkürzte Hipsterhose, weiße Oberbekleidung und rote Hosenträger - schießen die Chemnitzer ein mehr als zweistündiges Feuerwerk ab, das ihrem momentanen Status als eine der allergrößten Bands Deutschlands mehr als gerecht wird. Dafür verzichtet das Quintett auf Effektheischerei á la üppige Videowalls, Feuersalven oder absurde Bühnenaufbauten und lässt lieber sich und die Musik sprechen. Nur die obligatorischen Bengalen haben Pyro-Charakter. Die Bühne ist sogar erstaunlich klein, damit im Front-Of-Stage-Bereich links und rechts noch genug Fans Platz zum Moshen finden.

Die Magie des Abends ist in der Musik und in den Texten zu finden. Mit ihrer Mischung aus Indie-Disco, Pop und Rap haben sich die Ostdeutschen ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet. Gerade Songs wie „Eure Mädchen“ oder das unentwegt grandiose „Ich will nicht nach Berlin“ vom Debütalbum klauen die Riffs dreist von den frühen Arctic Monkeys. Brummer und seinen Mannen gelingt aber, was Alex Turner wahrscheinlich gar nicht mehr will: sie machen die Songs einer jungen Generation zugänglich, für die die britische Indie-Class der 2000er-Jahre längst in die Boomer-Schublade kategorisiert ist. Brummer hingegen schafft den textlichen Spagat zwischen jugendlichem Lebensgefühl, offensiver Nazi- und Rechtsaußen-Kritik, ostdeutscher Mentalität und graziler Aufforderung zur Anarchie, wodurch Kraftklub weit mehr sind als nur eine weitere Band, die ihren biergeschwängerten Herzschmerz in mediokre Texte gießt.

Ist das noch Punk?
Im Direktvergleich beim Konzertabend merkt man aber doch, dass die Burschen langsam in dieselbe Falle wie ihre Idole tappen und die kompositorische Kompromisslosigkeit der frühen Tage zunehmend gegen massentaugliche und käsige Refrains eintauschen. Gerade die brandneuen Songs wie „Teil dieser Band“ und die im Zugabenteil dargebotenen „Blaues Licht“ und „Ein Song reicht“ sind mit stadiontauglichen „Oooho“-Chören durchzogen, der Punk ist da noch nicht mal mit der Lupe zu finden. Kraftklub unterscheidet dabei aber ein wesentliches Detail von fast allen anderen: sie haben Selbstironie. Brummer merkt schmunzelnd an, dass man gerne für Toten-Hosen-Momente sorgt und eine gut gefüllte Wiener Stadthalle muss man eben anders bei Laune halten als, wie 2011 passiert, den Lustenauer Carinisaal, wo man vor sechs (wie Brummer beim Konzert erzählt) oder wahlweise 14 (wie Brummer der „Krone“ 2013 im Interview erzählte) zahlenden Gästen spielte.

Für allzu viel Nostalgie ist keine Zeit, dafür ist das Publikum viel zu gut drauf. Bei „Mein Leben“ bilden sich schon ganz früh im Set handgezählte neun (!) Moshpits unter den vielen Enthusiasmierten. Brummer klatscht unentwegt Hände von Stagedivern in den ersten Reihen ab, macht bittersüße Fußball-Scherze über Österreichs Nichtqualifikation bei der Skandal-WM in Katar und bittet den ersten 14-jährigen Stefan auf die Bühne, der am Glücksrad einen Gassenhauer dreht. Es wird das lautstark gefeierte „Irgendeine Nummer“ und klein Stefan bekommt noch ein Selfie mit der ganzen Band samt voller Stadthalle im Rücken auf sein Smartphone geknipst. Für das akustisch gespielte Duo „Kein Liebeslied“ und das von Brummers Hip-Hop-Alter-Ego entlehnte „Bei dir“ hüpfen Kraftklub mitten ins Publikum und lassen sich von einem Lichtermeer begleiten. Das intensive „Angst“ performt der Frontmann ganz alleine mit wuchtigen Samples aus der Dose, ansonsten unterstützt Gitarrist Karl Schumann ihn mit Backing Vocals und darf sich der viel zu selten an die Front geholte Drummer Max Marschk vor allem bei „Der Zeit bist du egal“ austoben.

Ein letztes Aufbäumen
Politische Brandreden über die Probleme in Iran oder das Schwingen von Antifa-Flaggen sind im Gegensatz zu deutschen Auftritten in Wien nicht zu sehen. Die Botschaften bleiben eher in Songs wie „Schüsse in die Luft“, „Kein Gott, kein Staat, nur du“ oder „Vierter September“ verhaften, in denen die Band deutlich kantiger ans Werk geht als in „Chemie Chemie Ya“ oder dem augenzwinkernden Boller-Rap „500 K“. Gegen die Überhitzung in den ersten Reihen haben Kraftklub weise vorausdenkend einen Mann zum kühlenden Handtuchwehen installiert. Fehlende Fan-Nähe kann man der Band keinesfalls vorwerfen. Der Schritt vom randvollen Wiener Gasometer vor Corona zu einer fast vollen Wiener Stadthalle nach Corona ist gewaltig und Kraftklub beweisen, dass sie dieser Herausforderung gewachsen sind. Dass dies auf Kosten der Indie-Edgyness geht, das wird Brummer und Co. aber bewusst sein. Jetzt wäre es nur noch schön, wenn man die ständig propagierte Toleranz auch einmal selbst umsetzt - indem man etwa der „Krone“ nicht konstant einen Fotopass für professionelle Konzertbilder verweigert. Vielleicht zählt das aber auch als letztes Aufbäumen gegen den Mainstream …

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