Großes Interview

40 Jahre Tote Hosen: „Stillstand ist kein Ziel“

Wien
01.06.2022 06:00

40 Jahre Die Toten Hosen, 60 Jahre Frontmann Campino - Deutschlands Vorzeige-Punk-Band ist schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen, hat inhaltlich aber nichts von dem Feuer und der Wut der frühen Tage verloren. Das Doppeljubiläum feiern die Düsseldorfer mit der Werkschau „Alles aus Liebe“ und einer wuchtigen Open-Air-Tour, die Anfang Juli auch in die Wiener Krieau führt. Grund genug, um mit Campino ausführlich zurückzuschauen und über Schnaps, Sex Pistols und Spagatsprünge zu reden.

„Krone“: Campino - 2022 feiern die Toten Hosen ihren 40. Geburtstag. Was macht ihr denn anders oder besser als andere, die nicht so lange überlebt haben?
Campino:
Vielleicht haben wir auf dem langen Weg einfach nur alle anderen Freunde verloren und müssen miteinander auskommen. (lacht) Wenn der Begriff nicht so hochtrabend wäre, würde ich von Schicksal sprechen. Der Mensch hat eine Intuition, warum er sich mit einem anderen zusammentut. Wie beim Bund der Ehe kann man aber nicht wissen, wie lange so eine Partnerschaft gutgeht. Manche Leute lösen sich nach drei Jahren voneinander, andere bleiben ein Leben lang zusammen. Es hat wahnsinnig viel mit Glück zu tun, aber hier und da haben wir die Weichen selbst gestellt. So hatte es für uns zum Beispiel immer Priorität, eher einen guten Freund als einen guten Musiker in die Band zu holen. Als Trini Trimpop, unser erster Schlagzeuger, die Band verließ, suchten wir lange nach einem Nachfolger. Es gab einen hochbegabten Jungen vom Konservatorium namens Jakob, der unglaublich gut Schlagzeug spielen konnte, aber charakterlich nicht so ganz in die Gruppe passte. Er saß mit seinem edlen Radfahreranzug hinter dem Kit und erzählte jedem, wie viel Zoll seine Snare hätte. Der konnte gar nicht aus seiner Haut raus, aber wir erkannten, so einer hatte nichts mit der Welt der Toten Hosen zu tun.

Wir wollten einen, der ordentlich mitfeiern konnte und im Zweifelsfall draufhaut. Unser Roadie meinte sowieso, er wollte nicht für Jakob aufbauen, also mussten wir einen anderen Drummer suchen. Das wurde dann unser „Kirschwasser-König“ Wölli, also Wolfgang Rohde. Die erste Probe endete, bevor sie überhaupt begann, mit einem Jägermeisterfrühstück. Wir waren mittags um 12 Uhr sternhagelvoll, lagen bewegungsunfähig auf dem Fußboden und wussten, er ist der richtige Mann. Es ging aber natürlich nicht nur ums Partymachen. Es gab auch viele Krisen und schlechte Momente. Situationen, in denen man sich gegenseitig aus dem Sumpf ziehen musste. Wenn du da nicht mit echten Freunden unterwegs bist, gerätst du schnell in Schieflage. Es hat sich so gefügt, dass wir das Technische und die Musik mit den Jahren auch noch halbwegs auf die Reihe gekriegt haben.

Auch Freunde verändern sich im Laufe der Jahre. Das Privatleben wird wichtiger, man setzt Prioritäten anders.
Man muss ständig daran arbeiten, das hört nicht auf. Unsere Partnerinnen stehen zwar nicht im Rampenlicht, spielen aber eine große Rolle. Wenn einer deiner Bandkollegen dir eine neue Frau vorstellt, akzeptierst du sie. Das eine oder andere Mal gab es in der Vergangenheit dabei sicherlich auch schon mal Eifersucht. Als Kuddel zum Beispiel die spätere Mutter seiner Kinder kennengelernt hat, machte ich mir Sorgen. Ich fragte mich, ob sie ihn ablenken würde oder wie weit er sich noch in die Band einbrächte. Würde er in eine Richtung gehen, die mit der unseren nicht mehr vereinbar wäre? Lauter Quatschgedanken. Eine Zeit lang habe ich mich da wie ein Depp verhalten und war nicht nett zu seiner Freundin. Bis ich irgendwann verstanden habe, dass das Beste für Kuddel auch das Beste für uns ist. Interessanterweise kam es nie dazu, dass einer von uns das Bedürfnis hatte, musikalisch eigene Wege einzuschlagen. Deshalb kam es bei uns auch nie zu Soloprojekten. Trotzdem nahm ich mir kleine Seitensprünge heraus und genoss sie auch. Etwa als Mackie Messer in Brandauers „Dreigroschenoper“ zu spielen, als Schauspieler für Wim Wenders zu arbeiten oder ein Buch zu schreiben. Wenn es mir wichtig war, habe ich auch Schlachten alleine geschlagen. Dadurch lernte ich aber im Endeffekt die Wertigkeit eines Kollektivs umso mehr zu schätzen.

Eine Teamfähigkeit wird wahrscheinlich auch erst mit den Jahren erfahrbar. Man muss vieles gemeinsam erlebt haben, um einen gewissen Egoismus zurückzustellen.
Es kriegt wahrscheinlich jeder mal einen Rappel und sucht seine Rolle in der Band, wenn man mehrere Jahre miteinander verbringt. Was passiert mit unserem Gleichgewicht, wenn ich mit meinem Standpunkt mal ganz nach außen gehe? Bei uns ist Teil des Erfolgsrezeptes, dass niemand dem anderen den Job neidet. Jeder weiß, warum er in der Band wichtig ist. Kuddel kann seine musikalischen Talente einbringen, die deutlich stärker vorhanden sind als bei uns anderen. Andi kann sehr gut Videos entwickeln und das Visuelle vorantreiben. Breiti hat ein besonders gutes Gespür für Zahlen und schaut deshalb über die Rechnungen und Verträge. Jeder hat sein Department und weiß, dass der andere alles nach bestem Wissen und Gewissen erledigt. Es stimmt wirklich, dass ich in 40 Jahren nicht einen Vertrag der Toten Hosen aufmerksam durchgelesen habe. Ich wusste ja immer, dass Breiti und Andi vorher genau draufgeschaut hatten. Es ist ein wunderschöner Luxus, dass ich die Zeit dafür nutzen kann, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, wie zum Beispiel meine Texte.

Ist das gegenseitige Vertrauen das größte Privileg, das ihr untereinander genießt?
Es ist auf jeden Fall eines der wichtigsten. Ein anderes ist zum Beispiel die Gewissheit, dass wir uns gemeinsam ermöglicht haben, durch die Welt zu fahren und sie kennenzulernen. Man kommt in ein Land wie Guatemala, wo man noch nie war, spielt dort ein Konzert und macht damit hoffentlich den Leuten ein nettes Geschenk. Im Gegenzug wirst du herzlich betreut, die Menschen zeigen dir die besten Underground-Läden und du kommst sofort mit der Szene zusammen, für die du dich interessierst. So etwas hat unsere Herzen oft berührt. Solche Reisen mit der Band sind viel intensiver, als würde man ein Land nur als normaler Tourist besuchen.

Als Musiker muss man aber auch eintauchen können in diese Gegenseitigkeit. Man muss diesen Austausch zulassen.
Bei uns wurde es immer dann spannend, wenn es über die Musik hinausging. Mit ihr als Werkzeug kann man einen Beitrag leisten, der wichtiger ist als das, was du mit deinen Songs sagen kannst. Du kannst Benefizkonzerte spielen oder auf Demonstrationen den Leuten Kraft schenken im Kampf gegen Repression und Polizei. Da erlebt man viele Dinge. In Havanna, Kuba, wurde uns einmal nach 45 Minuten der Strom abgestellt, weil die Leute zu wild getanzt hatten. In China mussten wir unsere Liedtexte vorab bei der Zensurbehörde einreichen, aber in derselben Nacht unseres offiziellen Konzerts haben wir in der Innenstadt einen kleinen Club gefunden und ein wildes Konzert mit den lokalen Punks abgezogen. Für solche Erlebnisse ist man unterwegs. Alles andere ist nur der Rahmen.

Du hast vorher Begegnungen angesprochen. Klaus Maria Brandauer, Wim Wenders oder auch dein Freund Jürgen Klopp sind große und erfolgreiche Persönlichkeiten in ihren Bereichen. Kannst du von ihnen auch was für dich und die Musik mitnehmen?
Ja, schon, aber die Leute nehmen eher davon Notiz, weil diese Menschen prominent sind. Wir haben aber auch viele Begegnungen gehabt mit Personen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen und für mich genausowichtig waren. Es geht ja nicht um Namedropping, aber alle, die du genannt hast, waren und sind für mich sehr wertvoll. Klaus Maria Brandauer und ich haben sechs Monate miteinander gearbeitet und sind heute noch befreundet. Das war eine kostbare Zeit, die sich nicht nur um die „Dreigroschenoper“ drehte, sondern auch um Lebensfragen und philosophische Betrachtungen. Ich habe da sehr viel gelernt, genauso wie in der Zeit mit Wim.

War es schwierig, den Wandel von einer Jägermeister-trinkenden Partyband zu einem Sprachrohr für die Massen zu werden, dem die Leute zuhören und Vertrauen schenken?
Das entwickelte sich Schritt für Schritt, auch wenn ich warnen muss, eine schnapstrinkende Partyband können wir heute manchmal immer noch sein. (lacht) Anfang der 80er-Jahre haben wir uns mehr oder weniger nur in sehr puristischen Punk-Kreisen aufgehalten. Der Rest der Welt war uns egal, wir waren in einer Blase unterwegs. Doch auch innerhalb dieser Grenzen wollten wir wiederum nicht dem Klischee entsprechen. Deshalb kamen Lederjacken oder Sprüche wie „Schieß doch Bulle“ bei uns nicht vor. Der Pfad erschien zu ausgetrampelt. Wir gaben uns völlig uncool, trugen Synthetikklamotten im Stil von den Undertones oder Johnny Moped. Uns ging es darum, das Ganze ins Dadaistische zu ziehen, wie es auch The Damned versucht haben. Wir wollten über den Weg der Ironie etwas Besonderes probieren. Dann starb die erste Welle der politischen Punkbands ab und dieses Feld wurde plötzlich frei. Da fühlten wir uns danach, diese Lücke zu schließen.

Mit der Zeit wurden wir immer häufiger gebeten, bei politischen Veranstaltungen aufzutreten. Etwa in der Hausbesetzer-Szene, gegen Räumung von irgendwelchen Gebäuden oder auch auf Demonstrationen gegen Castor-Transporte. Es gab immer mehr Punkte, wo man sich auf einmal politisch einbringen konnte und vor unserem geistigen Auge war da immer auch die Leuchtfackel namens The Clash vor uns. Sie haben mit der Gründung von „Rock Against Racism“ bewiesen, dass es um mehr gehen kann als nur um Musik. Sie haben sich mit der Reggae-Szene verbrüdert und gezeigt, dass es tolle Leute abseits der anerkannten Gesellschaft gibt. Diese Philosophie haben wir wie Schwämme aufgesaugt und versucht, uns ebenfalls in diese Richtung zu orientieren.

Das politische Ethos habt ihr euch über all die Jahre erhalten. Es gibt auch Bands, die ihre Standpunkte aufgegeben oder zumindest versteckt hatten.
Es gibt überhaupt keinen Grund selbstgerecht zu werden und etwa zu fordern, dass sich andere Bands mehr einbringen sollten. So etwas muss eine persönliche Entscheidung bleiben und sie ist zu akzeptieren. Nicht alle fühlen sich dabei nicht wohl, sich politisch zu äußern und wollen sich lieber nur auf ihre Kunst konzentrieren. Das sollte man annehmen, ohne die Nase zu rümpfen. Für uns allerdings war es immer wichtig, wer welches Lied singt und wie dieser Mensch zum Leben steht. Joe Strummer war in dieser Hinsicht für mich eine solche Respektsperson, dass ich lange Angst davor hatte, ihn zu treffen. Das ging mir bei einigen meiner Idole so - ich wollte mir mein Heldenbild nicht zerstören und war in diesem Punkt manchmal richtig feige. Irgendwann habe ich mich dann aber doch getraut, Joe Strummer zu begegnen, als ich zu einem Treffen eingeladen wurde und mit ihm einen sehr schönen Nachmittag verbracht. Daraus entstand damals ein sehr schönes Gespräch für die „Süddeutsche Zeitung“. Danach war ich ein noch größerer Fan von ihm, weil er unglaublich bescheiden und maßvoll war. So lehrt einem das Leben wichtige Lektionen.

Eine weitere wurde uns durch U2 erteilt. Wir waren einst als Gäste bei ihrer Tour eingeladen und in unserer Garderobe stand am ersten Tag zur Begrüßung eine große Flasche Champagner mit einem Brief, in dem es sinngemäß hieß, dass wir herzlich willkommen seien und uns jederzeit melden sollten, wenn es Probleme gäbe. Das hat uns so berührt, dass wir diese Geste übernommen haben. Alle unsere Gästebands bekommen eine Gage und sollen sich so wohlfühlen, als wären sie zuhause. Das machen wir noch immer so. Bei uns gibt es nur keinen Schampus, sondern mehrere Kisten Altbier für die Bands. (lacht) Support Acts übernehmen einen wichtigen Job, um das Publikum anzuheizen. Als Headliner solltest du derjenige sein, der die anderen begrüßt und willkommen heißt und nicht umgekehrt. Wir haben die Verantwortung, wie die Stimmung hinter der Bühne ist und wie sich die Roadcrew benimmt. Wenn sie mitbekommt, dass die Hauptband nett zu den Gästen ist, werden sie auch nett sein. Das sind ganz simple Regeln, die du aus Erfahrung lernst. So etwas kann man entweder verinnerlichen oder ignorieren.

Inklusivität statt Wettbewerbsdenken?
Was muss man für eine traurige Gestalt sein, wenn man sich über herablassendes und aufgeblasenes Benehmen definieren muss? Es ist extrem unangenehm, wenn eine berühmte Person, sein Umfeld ständig spüren lässt, wie wichtig sie sei. Absolut unerträglich.

Wer die Wiener Stadthalle füllt und dann aus Spaß noch immer Wohnzimmerkonzerte spielt, der muss eindeutig von Leidenschaft getrieben sein. Ansonsten würdet ihr das kaum machen? Oder wollt ihr euch damit das Gefühl der alten Tage zurückholen?
Es geht nicht nur um Leidenschaft, letztendlich ist es die einzige Möglichkeit, mit einer überschaubaren Anzahl von Leuten normal ins Gespräch zu kommen. Wenn der Gig vorbei ist, sitzt man bei ein paar Bieren zusammen und erzählt sich Dinge. Wir fühlten uns dabei immer genauso beschenkt wie die Leute, bei denen wir spielten. Wenn man den Status erreicht hat, dass man in großen Hallen auftritt, geht das mit dem Nachteil einher, dass man eine Security braucht und eine Trennung zum Publikum vollzogen wird. Man kann ja nicht mit 20.000 Leuten auf Tuchfühlung gehen. Wohnzimmerkonzerte sind unbezahlbar für den Fall, dass man Gefahr läuft, die Orientierung zu verlieren: Wo man herkommt, wer man ist und welche Menschen Deine Musik überhaupt hören. Auch für kritische Töne ist dann Raum.

Erzählen euch die Leute bei ihren Wohnzimmerkonzerten wirklich, was sie wurmt?
In den ersten fünf Minuten ist der gegenseitige Respekt vielleicht zu groß, aber das gibt sich. Es werden ein paar Biere und Schnäpse getrunken und alles wird sehr locker. Dann ist man miteinander auf Augenhöhe.

Für solche Abende braucht man eine gewisse Grundkondition. Die muss man in eurem Alter erst einmal haben...
Das ist immer eine Gratwanderung und die kriegen wir vielleicht auch nicht mehr so gut hin wie früher. Das gehört zum Älterwerden. Aber in Zeiten wie diesen, kannst du so ein Leben sowieso nicht durchziehen. Würden wir mit 20 Leuten ein Konzert im Wohnzimmer spielen und dann positiv getestet werden, müssten wir unter Umständen deswegen Stadionkonzerte absagen - das wäre natürlich ein Wahnsinn. Keine Versicherung übernimmt heutzutage mehr den Schutz gegen Pandemien. Alle Künstler und Bands, die in diesem Sommer unterwegs sind, fahren mit einem großen Risiko und viel Unsicherheit los. Die üblichen Backstagepartys werden sicher kleiner und strenger ausfallen. Das alles steht aber nicht in Relation zu dem Glück, dass wir endlich wieder losziehen und mit den Menschen schöne Abende verbringen dürfen.

Livepausen gab es im Hosen-Kosmos immer wieder, aber eben nie erzwungen. Ist das Gefühl der Rückkehr auf die Bühne jetzt ein anderes, besonderes?
Publikum und Bands werden viel mehr verstehen, wie fragil solche Glücksmomente sind und dass ein gemeinsam verbrachter Abend sehr kostbar ist. Die selbstverständliche Freiheit der letzten Jahre wurde zerrüttet und das vergessen wir nicht so schnell. Dann stellt sich auch die Frage, wie der Krieg in der Ukraine weitergeht. Eskaliert es komplett? Werden andere Waffen hinzukommen und andere Länder hineingezogen? Was wird Putin tun, um sein Gesicht wahren zu können? Diese Gedanken haben wir alle und die will ich auch nicht ignorieren. Doch umso mehr haben wir die Pflicht, kleine Glücksmomente zu erschaffen. Einen Abend zu genießen, an dem wir Dampf ablassen und uns richtig die Lunge aus dem Leib schreien können. Wir alle wollen wieder das Leben spüren. Deshalb werden wir eine andere Stimmung erleben als in vielen Jahren zuvor. Vielleicht wird diese besondere Nuance etwas sehr Schönes haben.

Zum Jubiläum gibt es die Werkschau „Alles aus Liebe“, die aus Klassikern, aber auch sieben neuen Songs besteht. Die Doppel-Single „Scheiß Ossis“ und „Scheiß Wessis“ mit Marteria aka Marten Laciny stieß schon rundum auf Anklang. Ist der Rostocker Rapper ein Bruder im Geiste?
Manchmal gibt es im Leben Begegnungen, mit denen man nicht rechnet und die Gold wert sind. Wir sind uns irgendwann in die Arme gelaufen und waren sofort brüderlich vereint. Es gibt einen 20-jährigen Altersunterschied, aber das kann auch Vorteile haben. Wir konnten uns wechselseitig eine Menge Fragen beantworten, in den unterschiedlichsten Bereichen. Ich hatte zum Beispiel Tipps für ihn, wie er sich im vertragsfreien Zustand orientieren könnte und er kann mir zum Beispiel sagen, dass ich in meinen Texten nicht so jammern und lieber zeigen soll, was die Hosen ausmacht: unsere Frechheit und Lebensfreude. Das addiert sich gut. In anderen Lebenssituationen bewegen wir uns parallel. Martens Sohn ist ein paar Jahre jünger als meiner, aber der Altersunterschied lässt sich gut kompensieren. Wir sind oft gemeinsam in die Ferien gefahren, haben mit den Jungs Fußball gespielt oder waren angeln. Uns eint viel mehr als die Musik. Die ist für uns nur eine Nebensache.

Passiert dir das mittlerweile manchmal, dass die Hosen-Texte an Frechheit einbüßen?
Das Gefühl habe ich nicht. Warum auch? Und wenn ich mit Marten zusammenarbeite, stacheln wir uns gegenseitig an. Es geht nie darum, wer welche Zeile in den Pott wirft, sondern was die beste Pointe ist. Manchmal habe ich 90 Prozent eines Textes entworfen, manchmal er. Manchmal ist es auch 50/50. Wichtig ist nur, dass sich jede Zeile anfühlen soll wie ein geschossenes Tor beim Fußball. Dann klatschen wir uns aus Freude ab. Mit ihm zu arbeiten ist ein unglaublicher Spaß.

Im Song „Wort zum Sonntag“ entledigst du dich in der neuen Version ein bisschen deiner Verantwortung, aus deinem Leben zu erzählen. Du machst aus dem 60er, den du ja bald feierst, den 70er. Ein Schutzmechanismus?
„Wort zum Sonntag“ haben wir neu aufgenommen, weil uns die Klangästhetik von damals nicht mehr gefiel - und in dem Rahmen haben wir eben auch das Alter geändert. Wir hatten bei den ursprünglichen Aufnahmen wohl gerade den Echoraum entdeckt und auf jedem Stück hallte es wie im Kölner Dom. (lacht) Dadurch ging viel Kraft verloren und die wollten wir jetzt zurückholen. Bei „Wort zum Sonntag“ wollte ich den alten Text nicht ruinieren, deshalb habe ich nur die „70“ ganz leise ins Mikro genuschelt. Dabei musste ich selbst schmunzeln, aber gleichzeitig soll es keine Drohung sein, dass wir noch so lange weitermachen, bis wir 70 sind. Das haben wir echt nicht vor. Wir sind schon froh, wenn wir bis zum Oktober kommen.

Wenn man sich dein Bühnengebaren ansieht, bist du der deutsche Mick Jagger. Da ist schon noch einiges möglich.
Die Rolling Stones sind jenseits von Gut und Böse. Damit wollen wir uns nicht vergleichen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass bei ihnen nur noch zwei Originalmitglieder auf der Bühne stehen. Aber was sie da abziehen, ist in jedem Fall eine unglaubliche Lebensleistung. So etwas wird es nie wieder geben. Sie sind seit vielen Jahren so legendär, dass einfach jeder Künstler einmal mit ihnen gearbeitet haben will. Eine Tour leiten oder ein neues Design für sie kreieren. So ist diese Band immer mit den größten Meistern ihres Faches verbunden, die es gerade gibt. Wenn sie auf Tour gehen, kannst du dir sicher sein, dass qualitativ das Maß aller Dinge präsentiert wird. Das ist bei den Toten Hosen leider noch nicht der Fall, aber wir sind froh, in unserer Liga vor uns hinzuwerkeln. Man sollte das nur nicht miteinander vergleichen. Die Stones sind ein gutes Beispiel dafür, dass man lässig älter werden kann. Viel mehr ist in dieser Hinsicht für uns jedoch Nick Cave ein Vorbild. Er ist ein gnadenlos guter Geschichtenerzähler und hat eine besondere Energie auf der Bühne, für die er nicht einmal viel Bewegung braucht. Nick Cave anno 2022 ist keinen Deut weniger spannend als Anfang der 80er-Jahre mit Birthday Party.

Ist für die Toten Hosen als Band auf der Bühne nicht die Physis unheimlich wichtig?
Bis zu einem gewissen Grad auf jeden Fall, aber es muss vielleicht nicht immer der Spagatsprung von früher sein. Das sieht irgendwann nur noch dämlich aus. Sobald man den als Beweis dafür benötigt, dass man es noch drauf hat, geht die Peinlichkeit schon los. Wenn ein 60-Jähriger eine Lichttraverse hochkrabbelt - will man das sehen? Wenn man Mitte 20 ist und das tut und alle wissen, der Typ ist nicht mehr nüchtern und könnte jeden Moment runterfallen, ist mehr Zirkusluft dahinter. Die Physis darf nie Routine oder Programmpunkt sein. Im Grunde ist es die höchste Kunst, auf die Bühne zu gehen, fast nichts zu machen und dabei trotzdem das Publikum zu fesseln. Das ist die Meisterklasse, soweit bin ich noch lange nicht. Ich habe meine Unsicherheit auf der Bühne immer mit Bewegung überspielt. Gerhard Polt aber kann da einfach nur einen Semmelknödel essen und das Publikum tobt. Da will ich einmal hin.

Gerhard Polt wurde gerade 80, Mick Jagger ist auf dem besten Weg dahin - sie alle hören nicht auf, sich ihrer Leidenschaft Kunst zu widmen. Kann man sich als Künstler jemals von seiner Profession und der Bühne trennen?
Man sollte das Alter nicht verstecken. In dem Moment, wo du dich selbst bescheißt, bescheißt du auch die Leute. Bei den Toten Hosen ging es gottseidank noch nie darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen, sondern zu dem zu stehen, was man macht. Und das ändert sich ständig. Mit 20 fanden wir Dinge gut, die uns heute nicht mehr interessieren. Aber im Leben muss es immer um Authentizität gehen. Alles andere wäre Blödsinn. Wir können unsere Lieder von damals mit einem Lächeln im Gesicht spielen. Songs wie „Armee der Verlierer“, Texte über Geldsorgen und Zukunftsängste - sowas nimmt uns doch keiner mehr ab. Diese Sorgen haben wir schon lange nicht mehr. Ich bin auch nicht mehr der Teenager, der mit dem Fahrrad zu seiner Liebsten fährt. Das kann man heute nur noch als Rückblick bringen und wenn man zur Vergangenheit keine Distanz entwickelt, hat man verloren. Nehmen wir die Sex Pistols, die ich nach wie vor sehr liebe. Sie waren für mich ein Erweckungsmoment. Ich würde mir eine Reunion unheimlich gerne ansehen, aber mein Wunsch wäre, dass sie nicht versuchen, diese Wut von früher auf die Bühne zu bringen, die sie heute einfach nicht mehr haben können. Dafür haben sie schon zu viel von der Welt gesehen. Entsprechend sollten sie mit einem Lachen rausgehen und sich so an damals erinnern. Dann könnte man das Abfeiern. So ähnlich würde ich das auch bei uns sehen.

Bei Sex-Pistols-Frontmann John Lydon würde eine Wiedergabe des 70er-Pistols-Spirit wohl aus vielerlei Gründen nicht mehr gehen.
Bei vielen Themen hat er sich einen guten Humor behalten, aber er hat auch etwas Tragisches an sich. Wenn man 19 Jahre alt ist und in diesem Moment den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hat, damit die Rock’n’Roll-Geschichte umschreibt und einen Meilenstein liefert, an den man nie wieder herankommen kann - was macht das mit einem? Man wird ein Leben lang auf diese Zeit angesprochen und kann sich dem nicht entziehen. Bei Lydon spürst du, dass er ständig nach einem Weg sucht, damit umgehen zu können. Er wirkt dabei aber nicht glücklich.

Denkt ihr als Band aktiv darüber nach, wie man in Würde altert oder lässt man das einfach geschehen?
Im Unterbewusstsein macht man das vermutlich ständig. Auch aus meinem Verständnis als Fan sehe ich das so. Für mich ist das „Rebellion Festival“ im August in Blackpool ein Pflichttermin, denn da spielen alle meine Helden. Ich fand die letzte Platte der Stranglers unglaublich gut. Es sind fantastische Songs darauf. Wenn eine Band wie Cock Sparrer eine neue Scheibe veröffentlicht, bin ich unheimlich gespannt, aber auch besorgt, ob die Jungs meine Erwartungen erfüllen können. Auch bei Social Distortion bete ich immer, dass mir die Alben gefallen werden. Es ist so schön, wenn dann alles gut wird. Das macht mich extrem glücklich.

Dein Freund TV Smith etwa tourt unablässig mit dem Zug durch ganz Europa und spielt als Alt-Punk Soloshows in kleinen Clubs. Wäre das für dich eine Option gewesen, hätten es die Toten Hosen nicht breitenwirksam geschafft?
Ich glaube, TV hatte das große Pech, keine lebenslangen Mitstreiter zu finden, mit denen er eine Band hätte gründen können. Andererseits hat er das Glück, dass er als Einzelgänger gut klarkommt. Ich bewundere ihn dafür, mit welchem Feuereifer er durchs Leben und auf die Bühnen geht. Außerdem ist er ein sehr guter Songschreiber. Ich müsste meine Musikliebe nicht so ausleben, allerdings gebe ich zu, dass ich letztes Jahr bei meinen Lesungen mit Kuddel tolle Abende hatte. Das war einer TV-Smith-Tour nicht unähnlich. Es bleibt für mich aber dabei, dass es im Kollektiv am Allerschönsten ist. Die besten Partys feiern wir zu fünft und die schlimmsten Niederlagen sind so auch besser zu verarbeiten. Ich würde nicht gerne tauschen wollen.

Und auch wenn man mir das nicht so einfach abkauft - ich entwickle keine Entzugserscheinungen, wenn ich mal nicht auf der Bühne bin. Ich habe das nicht nötig, um mein Leben zu spüren. Da brauche ich schon eher die Premier League und dass Liverpool vorne in der Tabelle steht. (lacht) Ich kann unheimlich gut andere machen lassen und mich daran erfreuen, nicht ständig im Mittelpunkt des Geschehens zu sein. Auf der Bühne ist das natürlich meine Rolle. Wenn ich daheim auf Partys von alten Kumpels bin, stehe ich von denen, die am meisten reden, wahrscheinlich irgendwo am unteren Ende der Tabelle. Ich muss immer lächeln, wenn Kollegen schwadronieren, dass sie so dringend die Bühne bräuchten und sonst gar nicht richtig leben könnten. Das halte ich für völligen Quatsch. (lacht)

Wenn man 40 Jahre Bandgeschichte rückbetrachtet, schwingt natürlich viel Nostalgie mit. Gab es bei der Rückschau nicht nur Lieder, die du ironisch in die Gegenwart hebst, sondern die vielleicht heute gar nicht mehr funktionieren?
Ein Lied entwickelt sich ständig weiter, nicht nur beim Schreiben, sondern auch noch, nachdem man es auf ein Album gepresst hat. Es steht immer auch im zeitlichen Zusammenhang und in der Art und Weise, wie das Publikum es aufnimmt. Es gibt Stücke, die eine neue Aktualität gewinnen, andere verblassen. Wenn wir das Gefühl haben, das Thema passt nicht mehr, rückt es in den Hintergrund. Ein kleines Beispiel: das Thema Frauen und Männer. Was man Anfang der 80er-Jahre noch im Altherrenstil für Witze gemacht und das auch noch in Songs verpackt hat, das geht natürlich heute nicht mehr so. Lieder wie „Drunter, drauf und drüber“ mit der Zeile „Hey, hallo, es wird nie mehr so wie früher, ohne Tripper, ohne Aids, ohne Syph und ohne Gummiüberzieher“ sind einfach aus der Zeit gefallen. Manche Lieder funktionieren auch in der Ironie nicht mehr, weil man sie ohne den damaligen Kontext missverstehen würde.

Wir haben irgendwann begriffen, dass sich der Mainstream gar nicht so sehr mit unseren Songs befasst. Wenn du dann eine bestimmte Nummer veröffentlichst, kann die schnell falsch verstanden werden. Ein Lied wie Funny van Dannens „Lesbische, Schwarze, Behinderte“ ist ein sehr guter Song. Die Menschen haben von unserem Cover vermutlich aufgrund des Krachs aber nur Bruchstücke verstanden und das Feingeistige dahinter blieb auf der Strecke. Wenn man merkt, dass diese Ebene nicht funktioniert, muss man es dann einfach sein lassen und die Lieder aus dem Set streichen. Man sollte sich ständig hinterfragen und prüfen, ob die Lieder noch haltbar sind.

Ist das ständige Hinterfragen und Reflektieren allgemein eine gute Sache für dich?
So ist das Leben und das ist okay. Wir sind immer daran interessiert, das Programm und uns selbst auf der Bühne zu ändern und anzupassen. Stillstand ist kein erstrebenswertes Ziel, wir wollen neue Möglichkeiten ausloten.

Wenn man so wie ihr gerade sieben neue Songs geschrieben hat, dann liegt die Vermutung nahe, dass ein weiteres Studioalbum der Toten Hosen doch absehbar ist.
Eines wird es hoffentlich noch geben, diesen letzten Gong, die letzte Runde möchten wir aber auch noch physisch erleben. Wir wollen uns dessen gewahr sein, wenn wir die erste Aufnahme des letzten Albums beginnen. Dieses besondere Gefühl erleben können. Deshalb werden wir wohl noch eine Scheibe machen, aber sehr viel mehr wird es nicht mehr werden. Ich will aber nichts versprechen, was ich nachher nicht halten kann. Nur eins ist völlig klar: Wir werden nicht mehr in der Kategorie „Nachwuchspreis gewinnen können.

Live in Wien
40 Jahre Tote Hosen müssen natürlich auch live gebührend gefeiert werden. Am 2. Juli spielen Campino, Kuddel und Co. ein exklusives Österreich-Konzert und werden ihre einzigartige Karriere bei einem Open-Air in der Wiener Krieau mit Sicherheit würdig zelebrieren. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten und alle genauen Infos zum Top-Event.

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