Album & Interview

Paul Gilbert: Die Gitarre als fixer Körperteil

Musik
04.08.2021 06:00

Paul Gilbert gehört zu den größten Gitarrenvirtuosen der Gegenwart, schafft es aber zeit seines Lebens, seine ausufernden Fertigkeiten mit einem untrüglichen Gespür für Melodien und Rhythmik breitenwirksam zugänglich zu machen. So klingt auch sein neues Instrumentalwerk „Werewolves Of Portland“ alles andere als vertrackt und mathematisch. Im Gespräch erklärte uns der 54-Jährige zudem, worauf es ihm bei der Musik ankommt und was der größte Fehler seines Lebens war.

(Bild: kmm)

Das tragische Ableben von Eddie Van Halen letzten Herbst machte einmal mehr gewahr: auch die größten Gitarrenhelden und innovativsten Freigeister ihrer Zunft sind am Ende des Tages keine unsterblichen Götter. Die fetten Jahre des Frickelns und Exerzierens sind freilich schon länger vorbei, doch musikalische Trends gehen in Wellenbewegungen und so manch hungrige Rockband aus dem Untergrund scharrt bereits in den Startlöchern, um mit der sechssaitigen Axt wieder breitenwirksame Erfolge einzufahren. Diese hatte Wundergitarrist Paul Gilbert Anfang der 90er-Jahre mit Mr. Big zu verzeichnen. Nicht nur deren Welthit „To Be With You“ sorgte für ausverkaufte Arenen in den USA und respektable Auftritte in Europa, es lag auch an den musikalischen Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder. Dass er die Band 1996 für einige Jahre verließ, brachte Gilbert zwar um Ruhm und finanzielle Einbußen, doch derlei Attribute waren noch nie Kriterien für den Musiknerd.

Drang zur Selbstständigkeit
Nach einigen Jahren im Speed Metal mit seiner ersten Band Racer X und dem Mainstream mit Mr. Big wollte er sich selbst entfalten. 1997 erschien das Debüt „King Of Clubs“, 15 weitere Solowerke sollten bis heute folgen. „Damals wollte ich unbedingt Sänger werden und musste einfach durch dieses Stahlbad der Emotionen“, lacht Gilbert im Gespräch mit der „Krone“, „ich brachte viele Songs ins Mr.-Big-Studio, die für die Band einfach zu poppig waren und wollte den Leuten zeigen, was mich zu diesem Zeitpunkt ausmachte.“ Wie ein Besessener shreddete, gniedelte und riffte sich Gilbert in den letzten zweieinhalb Dekaden durch seine Soloplatten. Er setzte Gesang ein und verwarf ihn, kooperierte mit unzähligen verschiedenen Musikern und changierte zwischen verschiedenen Stilen von Pop über Rock bis hin zum Blues, dem er eine erkleckliche Phase seiner langen Karriere widmete.

„Ich hatte als 22-Jähriger eine Schwächephase, das war knapp vor dem Beginn mit Mr. Big. Ich wollte keine klassischen Rock-Licks mehr spielen und verfiel völlig dem 60er-Pop der Beatles. Ich habe mir den Katalog der Beach Boys nachgekauft und die Songwritingtechniken von Keyboardern erlernt. Der beste Pop der 60er- und 70er-Jahre wurde von Pianisten geschrieben. Paul McCartney, Elton John oder Brian Wilson haben ihre großen Songs alle auf diesem Instrument kreiert. Ich habe dann versucht die Piano-Strophen auf die Gitarre umzulegen, was extrem spannend war.“ Ein wichtiges Geheimnis des Gilbert’schen Erfolgs ist seine Zugänglichkeit. Auch wenn er sich gerne in seine instrumentale Welt des Wahnsinns versteigt, sind die Songs für gewöhnlich stets zugänglich, rhythmisch und für den durchschnittlichen Hörer nachvollziehbar. Gilbert behandelt das Instrument fast schon wissenschaftlich und verschafft seinen Songs trotzdem einen kommerziellen Zugang.

Texte fürs Gefühl
Das lässt sich auch wieder gut auf seinem neuen Album „Werewolves Of Portland“ herausfiltern. Anstatt mit einer ganzen Charge an musikalischen Könnern im Frühling 2020 das Studio zu entern, hieß es erst einmal Lockdown abwarten und umplanen. Der 54-Jährige hat sechs Monate lang an den Songs geschraubt und erstmals alle Instrumente komplett alleine eingespielt. Kein Problem für einen Könner, der Schlagzeug, Bass und Keyboard zwar nicht perfekt, aber rhythmisch mehr als ausreichend beherrscht und darüber Slide-Gitarre, Rock-Gestus und sehr viel Shuffle-Blues legt. Ein weiterer Beweis für seine Nerdigkeit ist die Tatsache, dass Gilbert seinen rein instrumentalen Songs vorab Texte beisteuert, die er dann wieder verwirft. „Ich brauche das, um eine Struktur zu haben, ansonsten würde ich nur die Skalen auf- und abfahren. Meist schreibe ich nur einen Refrain oder einen Vers, um ein Gefühl für den Song zu kriegen. Dieser Zugang nimmt mir jede Form von Limitation und die Melodien werden automatisch größer, wenn ich mir vorstelle, sie zu singen.“

Wie verrückt die Gedankengänge des Spaßvogels sind, beweisen nicht zuletzt Songtitel wie „Professorship At The Leningrad Conservatory“, „Argument About Pie“ oder „A Thunderous Ovation Shook The Columns“. „Es gab schon die Überlegung, auf einen fixen Sänger zurückzugreifen, aber ich würde mir das Vorab-Textschreiben nicht nehmen lassen und mit diesen verrückten Gedanken, die mein Gehirn durchziehen, müsste jemand anders erst einmal klarkommen.“ Auch auf „Werewolves Of Portland“ geht es Gilbert um das Weiterkommen, das Verfeinern und Entwickeln. „Alles geht immer in der Gemeinschaft mit deinen Händen und deinem Gehör. Wenn du da eine gute Verbindung herstellen kannst, hast du den Dreh raus. Es gibt nichts Leichteres als auf einem Instrument einen wirklich schlechten Song zu spielen. Ein paar Riffs kann jeder zusammenstoppeln, aber du brauchst Melodien und ein System. Ich selbst benötigte fast vier Jahrzehnte, bis ich mich für Melodien zu interessieren begann. Früher dachte ich immer, das wäre die Aufgabe des Sängers und der Gitarrist spielt seine Parts dazu. Ich verstehe auch nie das Aufwiegen zwischen Gefühl und Technik - das geht nur zusammen. Beides sind Elemente des instrumentalen Ausdrucks und wird viel zu schnell generalisiert. Die Dinge sind nicht so simpel, wie sie scheinen.“

Den Preis bezahlt
Simpel ist bei Gilberts Musik wenig, doch durch seine spät entdeckte Liebe zur Melodie entkommt er der Falle des bloßen Zurschaustellens seiner Fertigkeiten. Und der Nachwuchs schläft nicht, dass weiß er als langjähriger Gitarrenlehrer aus eigener Erfahrung. „Ich lerne von meinen Schülern sehr viel. Sie sind technisch meist besser als ich und haben die richtigen Noten für die richtigen Rhythmen. Da muss ich mich dann bemühen und lernen, wie ich mich in meiner Art ähnlich ausdrücken kann. Eine ungemein spannende Sache. Wenn ich selbst dazulernen will, dann schaue ich aber meist nicht auf andere Gitarristen, sondern auf Sänger, Hornisten, Keyboarder oder Cellisten.“ Mit seiner Karriere hat Gilbert nicht zu hadern, aber sein Ausflug in die Sänger-Gefilde forderte ihren Preis. „Das ist der Grund, warum ich so viel von meinem Gehör verloren habe und wirklich Probleme damit habe. Ansonsten bin ich voller Dankbarkeit für meine Karriere“. Ob es mit Mr. Big noch einmal weitergeht, steht nach dem Tod von Drummer Pat Torpey 2018 in den Sternen. Gilbert erklärt uns aber sicher weiterhin die große bunte Welt der sechssaitigen Streitaxt. Unermüdlich und neugierig.

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