15 Jahre danach

Natascha Kampusch: „Gelernt, mein Herz zu öffnen“

Adabei
25.04.2021 10:30

Natascha Kampusch (33) - 15 Jahre danach. Wie läuft ihr neues Leben? Welche Tücken hat die Freiheit? Ein Gespräch über Anfeindungen & neuen Mut: „Das U-Bahn-Fahren hab‘ ich aufgegeben.“

Die Bauarbeiter warfen alles auf einen Haufen. Das Ablagebrettchen, auf dem acht Jahre lang ihre Seife und Zahnbürste gelegen waren, zerbrach. „Ganz oben auf dem Haufen meines alten Lebensabschnitts lag ein eingerissenes Bildchen von Don Bosco, das ich an meine Pinnwand geheftet hatte - er würde mir jetzt wohl sagen: ,Geh, lass diesen Krempel liegen und versuche, auf diesem Misthaufen neue Blumen wachsen zu lassen‘“, schildert Natascha Kampusch den Tag im Jahr 2011, als ihr Verlies auf Anordnung der Gemeinde (und auf ihre Kosten) mit Beton zugeschüttet werden musste.

Der schaurige Ort mit dem Haus drauf war ihr davor als eine Art Entschädigung zugesprochen worden für jene acht Jahre, die sie in diesem nur acht Quadratmeter kleinen Keller gefangen gehalten worden war. 1998 war die damals Zehnjährige bekanntlich auf dem Schulweg vom arbeitslosen Wolfgang Priklopil gekidnappt worden und verschwand in dieser Welt in Strasshof bei Gänserndorf. Als 18-Jährige gelang ihr Ende August 2006 in einem unbemerkten Moment die dramatische Flucht, Priklopil nahm sich daraufhin das Leben. Das weltweite Echo war enorm.

Wie geht es ihr heute?
15 Jahre ist dies her. Wie hat sie sich eingelebt in ihrem neuen Leben? Wie geht es ihr heute? Die mittlerweile 33-Jährige trägt ein herzliches Lächeln, als sie zum Interview erscheint. Dazu einen chicen schwarzen Mantel, Stiefeletten und eine kleine rosa Tasche mit einem Snoopy und Woodstock vorne drauf. Es ist ein fröhliches Motiv. „Ich habe es selbst gemalt. Es war gar nicht so einfach, den lachenden Mund so schön hinzukriegen“, schildert sie.

Auch die Halskette hat sie selbst gefertigt. Immer wieder verblüfft sie mit Talenten oder Wissen zu allen möglichen Gebieten. Sie scheint interessiert an allem. Vor allem an den Menschen um sich. Gern dreht sie die Situation um und stellt Fragen, hört zu, hat Ratschläge parat und stellt fest: „Sie sind sicher Zwilling?“ Auch bei Astrologie kennt sie sich offensichtlich aus.

Natascha Kampusch mit selbst bemalter Snoopy-Tasche (Bild: Reinhard Holl)
Natascha Kampusch mit selbst bemalter Snoopy-Tasche

„Krone“: Wie war die Pandemie für Sie? Keine Kontakte, Isolation - all das war Ihnen nur zu gut bekannt. War es daher einfacher oder schwieriger?
Natascha Kampusch: Das haben Sie richtig erkannt. Mit dieser Situation bin ich gut vertraut. Der plötzliche Verlust der Freiheit, die Einsamkeit, die Ohnmacht, wenn das Leben von einem Moment auf den anderen ganz anders ist und die Gedanken kreisen. Darum kann ich jetzt damit viel besser umgehen als andere, aber auch die Verzweiflung der Menschen verstehen. Nur nützt das Auflehnen nicht.

Was war denn schwieriger für Sie: die Gefangenschaft oder die 15 Jahre danach? Sie mussten die Freiheit ja völlig neu lernen und wurden oft angefeindet. Wieso ist das so?
Wahrscheinlich, weil ich kein typisches Opfer bin, sondern mutig und eine eigene Meinung habe. Das wollen die Menschen nicht so sehr.

Wie haben Sie sich in der Zeit danach verändert?
Ich bin einfach erwachsen geworden. Das ganze Leben ist anders.

... als damals, als Kollegin Marga Swoboda Sie im allerersten Interview nach der Flucht als „zerbrechlich wie ein Schmetterlingskind“ bezeichnet hat.
Darf ich etwas zu ihr sagen? Das würde mich freuen. Sie war eine sehr warmherzige Person, die ernsthaftes Interesse an Menschen hatte. Deswegen habe ich sie mir damals auch als Interviewerin gewünscht. Ich habe in Gefangenschaft ja manchmal die Zeitung lesen können und sie gekannt. Auch die Gerti Senger hab‘ ich immer gelesen, den Günther Nenning und das Sonntagshoroskop. Marga hat mir ein sehr nettes Paket geschenkt mit Schokolade, einer Spieluhr und einer Ausgabe vom „Kleinen Prinzen“. Es tut mir sehr leid, dass sie verstorben ist.

(Bild: Kronen Zeitung, Krone KREATIV)

Wie sieht denn Ihr Alltag aus?
Normalerweise reise ich viel, das ist derzeit aber nicht möglich. Mein Alltag ist bunt, es ist immer etwas Neues. Ich habe viele Ideen und mache meine Projekte und Termine, mit denen ich mein Geld verdiene. Ich liege nicht dem Staat auf der Tasche und bezahle meine Versicherung selbst. Die Spenden habe ich immer gleich an Menschen weitergegeben, die sie dringender brauchen als ich. 2011 habe ich ein Kinderspital mit 25 Betten in Sri Lanka finanziert. Das war mir ein großes Anliegen.

Ihnen wurde ein Teil des Hauses des Täters als eine Art „Entschädigung“ zugesprochen; den anderen haben Sie später von Priklopils Mutter gekauft, die ihn auch nicht haben wollte. Wissen Sie schon, was Sie damit machen?
Es ist ein fremder und zugleich vertrauter Ort, für den ich die Kosten trage. Und um den ich mich kümmern muss. Der Garten ist mittlerweile ganz strubbelig. Einmal im Monat fahre ich hin, lüfte und gehe mit einem Putzkübel durch. Ich weiß noch nicht, was ich damit tun werde. Ich will ja auch nicht, dass irgendjemand etwas Komisches damit tut.

Leben Sie alleine?
Ja, in einer kleinen, hellen, gemütlichen Wohnung mit einem Balkon. Den Haushalt mache ich selbst. Ich schaue doch nicht zu, wenn jemand anderer für mich putzt! Ich koche auch manchmal für mich und versuche gerade, von vegetarisch auf vegan umzustellen, weil man gar nicht anders kann, wenn man Tiere liebt. Den Bauern wird das Leben schwer gemacht mit der Mutterkuhhaltung, und die industrielle Milchwirtschaft und den schlechten Umgang mit Tieren mag ich nicht mehr unterstützen.

In Ihrem Buch schildern Sie eine Szene in Berlin, als Menschen auf der Straße Sie als „Walross“ bezeichnet haben. Welche Rolle spielt Ihr Gewicht für Sie?
Es ist erstaunlich, wie wichtig dick oder dünn für die Menschen ist. Darüber müssen wir einmal ein eigenes Interview machen. (Sie wischt über ihr mit rosa Glitzersteinchen verziertes Handy und zeigt Kinderfotos) Schauen Sie, ich war eigentlich ein dünnes Kind, eigentlich sehr zart. Nur bei meiner Gefangennahme war ich kurz stärker. Und dann habe ich selbst geglaubt, dass ich dick bin, weil es alle geschrieben haben. In der Gefangenschaft war Nahrungsentzug ein Machtmittel. Ich habe immer Hunger gehabt und wog gerade einmal 38 Kilo. Als mir einmal die Panier von einem Stück Fisch auf den Boden gefallen ist, hat mir der Täter zur Strafe Pril über mein Essen geschüttet. Nach meiner Flucht war Essen Freiheit und Trost. Erst durch das Übergewicht, das ich jetzt habe, sehe ich, wie egal es eigentlich ist. Man kann sich ja trotzdem nett anziehen.

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Es ist erstaunlich, wie wichtig dick oder dünn für die Menschen ist.

Natascha Kampusch

Mode ist Ihnen wichtig? Sie haben vor zwei Jahren auch eine eigene Schmuckkollektion entworfen.
Ja, in Gefangenschaft habe ich nie schöne Kleidung gehabt. Nur das Kleid, das ich am Tag meiner Entführung trug, hatte ich aufgehoben. Irgendwann war ich herausgewachsen. Dann habe ich das Oberteil vom Rock getrennt und ihn immer zu Weihnachten getragen. Da wollte ich trotz allem schön angezogen sein. Ich nähe gerne für mich. Das hat mir meine Mama beigebracht. Ich würde auch gerne Stoffe designen. Vielleicht liest das ja jemand? Dieses Shirt ist aus London. Zufällig passt es zur Location hier und den Blumen dort.

Brauchen Sie noch Therapie?
Einmal pro Woche gehe ich zur Gesprächstherapie. Oder öfter, wenn mich etwas sehr belastet. Die Konfrontationen oder Zuschreibungen von außen machen mir manchmal zu schaffen.

Fahren Sie U-Bahn?
Nein, das habe ich 2007 aufgegeben. Mein Alltag ist sehr beeinflusst durch das ständige Erkanntwerden, das Anemotionalisiert-, Angepöbelt- oder unangenehm Angeflirtetwerden. Ich hab‘ zwar auch den Führerschein gemacht, fahre aber nicht mehr selbst. Ich gehe gern zu Fuß.

Sie haben zu reiten begonnen?
Ja, drei- bis viermal pro Woche. Ich liebe Pferde. Man kann viel von ihnen lernen. Sie sind zwar Fluchttiere, aber sehr stark. Ich habe durch sie Vertrauen gefasst und gelernt, mein Herz zu öffnen. Und dass ich mich nicht verstellen muss.

Singen hat Ihnen auch geholfen?
Meine Gesangslehrerin hat mich immer „Applaus, Applaus“ singen lassen. Ich glaube, sie wollte mir damit etwas mitteilen. Leider ist es ihr dann nicht gut gegangen. Ihre Mama ist schwer erkrankt und in sehr kurzer Zeit gestorben. Es ist nicht ohne, wenn die eigene Mama stirbt (sichtlich bewegt kämpft sie mit den Tränen). So hat das Singen dann aufgehört.

„Krone“-Interview mit Edda Graf: „Mein Alltag ist beeinflusst durch das ständige Erkanntwerden.“ (Bild: Reinhard Holl)
„Krone“-Interview mit Edda Graf: „Mein Alltag ist beeinflusst durch das ständige Erkanntwerden.“

Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern?
Ich habe einen sehr innigen Kontakt zu meiner Mama, die heuer 71 wird. Meinen Papa habe ich auch lieb (schmunzelt) - es ist halt manchmal schwierig, wenn er wieder irgendwelche Leute aus dem Hut zaubert. (Anmerkung: Ludwig Koch hatte lang ein sehr gespaltenes Verhältnis zur Familie und eigene Theorien zum Kriminalfall, die allerdings nie belegt wurden.)

Haben Sie Freunde?
Viele begleiten mich aus Kindergarten- und Schulzeit. Sie sind sehr wichtig für mich. Es sind auch neue dazugekommen. Aber ich gebe mich nicht mehr mit jedem ab. Ganz normale Menschen sind mir am liebsten. Mit der Oberflächlichkeit der Gesellschaft komme ich nicht so gut zurecht. Einmal wollte man mich mit Paris Hilton zusammenbringen, nur weil wir beide am selben Tag Geburtstag haben (lacht).

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Einmal wollte man mich mit Paris Hilton zusammenbringen, nur weil wir beide am selben Tag Geburtstag haben.

Natascha Kampusch

Sind eigene Familie und Kinder ein Thema für Sie?
Ich habe Freude an den Kindern meiner Freunde. Ich fühle mich wohl, so, wie es ist, und habe keinen Druck oder Angst. Weder vor Nähe und auch nicht vor dem Alleinsein. Wo findet man einen Mann, der zu einem passt? Von Tinder halte ich ja gar nichts (macht sich über die Mogel-Profile lustig). Die sind dort alle so schön und erfolgreich, da fällt mir die Auswahl schwer. Außerdem: Die Männer kennen mich meist, ich sie aber nicht.

Haben Sie je eine Antwort darauf gefunden, warum Priklopil Sie entführt hat?
Nein. Ich habe viel darüber nachgedacht. Vielleicht hätte man mehr über den Täter herausfinden müssen. Aber es gibt ja auch Täterschutz. Und für mich ist es gut ausgegangen. Ich bin frei gekommen. Damit ist es für mich erledigt.

Sind Sie glücklich?
Ich glaub‘ schon.

Danke für das sehr persönliche Gespräch.
Ich würde Sie jetzt gern umarmen. Fühlen Sie sich umarmt.

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(Bild: kmm)



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