krone.at-Interview

„Pelikanblut“-Talk über Horror und Menschliches

Kino
10.10.2020 10:53

Wie weit geht bedingungslose Mutterliebe? Als Wiebke (Nina Hoss) die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska) aus Bulgarien adoptiert, ahnt sie noch nicht, welche Probleme auf sie zukommen und gegen welche Widerstände sie sich durchsetzen muss. Mit „Pelikanblut“ wildert Regisseurin Katrin Gebbe zwischen Drama, Mystery-Thriller und Horror, setzt aber das Menschliche stets ins Zentrum des Geschehens. Im Interview mit krone.at gab sie nähere Einblicke in das Werk, zu dem es auch Kinogutscheine zu gewinnen gibt.

„Krone“: Katrin, dein Film „Pelikanblut“ ist eine interessante Mischung aus verschiedenen Genres und Ästhetiken, der sich mit einem adoptierten Kind befasst, das nach einer grässlichen Vergangenheit keine Empathie verspürt, von der neuen Mutter aber trotzdem bedingungslos geliebt wird. Was hat dich an diesem Stoff besonders gereizt?
Katrin Gebbe:
 In meinem ersten Film „Tore tanzt“ habe ich schon zu ergründen versucht, wo das Böse im Menschen herkommt. Mich hat immer interessiert, wie man ein Psychopath wird. Sind das Traumata? Wird man so geboren? Ist das Umfeld dafür verantwortlich? Im Zuge meiner Recherchen bin ich auf den US-Dokumentarfilm „Child Of Rage“ aus den 90ern gestoßen. Dort wird ein fünfjähriges Mädchen von einem Psychiater befragt und beschreibt emotional total kalt und abgebrüht, wie sie ihren kleinen Bruder foltert und verletzt. Das hat mich extrem berührt. Einerseits wollte ich dieses Mädchen beschützen, andererseits stießen mich ihre Handlungen ab. Das Mädchen war bereits adoptiert, kam aber in eine neue Pflegefamilie und erst dort hat die Mutter es geschafft, ihr durch ihre Arbeit zu helfen und zu ihr durchzudringen. So stieß ich auf den christlichen Pelikanmythos, der eigentlich aus der Antike kommt. Die Pelikanmutter sticht ihre Brüste auf, um mit dem Blut ihre toten Kinder wieder zum Leben zu erwecken. Für mich war das ein gutes Bild, einem emotional zerstörten Kind wieder auf die Beine zu verhelfen.

Als Zuseher geht man durch alle Wellentäler der Emotionen, weil man selbst nicht weiß, wie lange man zu einem eigentlich unschuldigen Kind, das aber eine solche Härte aufweist, halten soll. War es dir wichtig, bei den Rezipienten mit diesem Thema einen inneren Widerspruch heraufzubeschwören?
Mir ist es sowieso wichtig, dass Figuren in Filmen dreidimensional sind. Es ist spannend, wenn man selbst positive als auch negative Gefühle gegenüber den Protagonisten hat. Ich sehe das frühe Beurteilen in der Gesellschaft allgemein als problematisch an, denn wenn man hinter die Fassaden blickt und einmal schaut, was dieser Mensch vielleicht schon erlebt hat oder was hinter seinen Motivationen steht, denkt man vielleicht anders über ihn. Wenn das zu den Leuten durchdringt, dann freue ich mich.

Wenn man „Tore tanzt“ und „Pelikanblut“ zueinander stellt, könnte man sagen, dich reizen menschliche Abgründe und gesellschaftliche Extrempositionen.
Ich weiß nicht, ob man das so pauschal sagen kann, aber mich interessiert es schon, Sachen auf die Spitze zu treiben. Wie weit würde jemand in einem bestimmten Fall gehen? Wenn ich mir selbst Filme ansehe, sind es die mutigen, die dann länger bei mir bleiben. Es kann die Geschichte selbst sein oder die Umsetzung, aber wenn man etwas hinterlässt, das die Zuseher länger beschäftigt, dann ist das besonders toll. Man kreiert für etwa zwei Stunden einen Raum, indem jemand mit dem Film eine besondere Erfahrung macht.

Das Kind Raya (Katerina Lipovska) wird von Mutter Wiebke (Nina Hoss) aus Bulgarien adoptiert. Das meines Wissens einzige Land, aus dem alleinstehende Frauen in Deutschland Kinder adoptieren dürfen. Steckt hinter diesem Bezug auch eine humane, europäische Botschaft der Toleranz?
Ich fand wichtig, dass es keine illegale Adoption ist und Wiebke nicht dafür bestraft wird, sich ein Kind zu holen. Ich wollte, dass an dem Film jedes Element authentisch ist, weil er am Ende in eine Überhöhung geht. Über das Adoptionssystem kann man aber diskutieren, denn ich habe mitbekommen, dass sich viele Adoptiveltern oft alleingelassen fühlen. Wenn man Pflegekinder aufnimmt, kriegt man erst einmal gar keine Hilfe. Im Film geht es nicht nur um diese eine Geschichte, sondern auch um die Frage, wie wir allgemein mit Menschen umgehen, die nicht so sind wie wir selbst und wie viel wir bereit sind zu geben, um ein Miteinander zu gestalten. Das könnte genausogut ein Flüchtling sein oder jemand, der eine psychische Krankheit hat oder ein Partner, der ein Alkoholproblem hat. Mit der Frage, wie weit gehe ich als Mensch, konnte ich viel anfangen. Viele Zuseher fanden unterschiedliche Anknüpfungspunkte und das fand ich besonders toll.

Einerseits geht es um die bedingungslose Liebe der Mutter, die stärker ist als all die Gegenstimmen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, andererseits darum, lieber etwas zu reparieren, als es wegzuwerfen - bis zur Selbstaufgabe. Eine Einstellung, die heute nicht mehr Usus ist.
Wenn es Probleme gibt ist man mittlerweile geneigt dazu, etwas sehr schnell auszutauschen, aber mit einem Kind darf man das nicht machen. Ich kann Familien verstehen, die überfordert sind und nicht mehr länger mit einem Kind leben können. Ich will das gar nicht bewerten, aber ich glaube im gesellschaftlichen Kontext daran, dass man ein Kind nie aufgeben darf und es immer retten muss. Irgendwann wird es erwachsen und dann hat man nur mehr die Möglichkeit, jemanden wegzusperren. Wir neigen dazu, jemanden ins Gefängnis oder in die Psychiatrie zu sperren, wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen. Was wäre, wenn man selbst nur dieses eine Leben hat und es hinter Gittern verbringen muss? Ich habe schon Mitgefühl, auch wenn es natürlich Grenzen gibt.

Kinder werden sinngemäß immer mit dem Reinen, Weißen, Unschuldigen konnotiert - Raya bricht dieses Dogma durch ihre Empathielosigkeit auf. Wie schwierig war es, so ein Kind, das auch viel Negatives erlebt hat, nicht als gewissenlosen Teufel darzustellen?
Die Herausforderung bestand in erster Linie darin ein Kind zu finden, das immer noch schützenswert ist, auch wenn es böse rüberkommt. Ein Kind an sich kann nicht böse sein. Es wird geboren und trifft irgendwann auf ein Umfeld und entwickelt sich daraus. Ich wollte ein Kind finden, dass so jung ist und trotzdem eine Rolle spielen kann, bei dem wir alle das Gefühl haben, wir möchten es retten - trotz allem. Ab einem gewissen Alter ist das schwierig, weil das Kindchenschema psychologisch gut funktioniert, aber mit steigendem Alter werden die Menschen emotional distanzierter.

Katerina war zum Zeitpunkt des Drehs sechs Jahre alt und konnte zwischen der Rolle und sich selbst sehr gut unterscheiden. Sie hatte große Lust darauf, das Böse zu entdecken. Wir mussten sie beim Dreh aber beschützen, damit sie nicht selbst eine Traumatisierung erfährt. Mit ihrer Mutter und tollen Kindercoaches haben wir eine Storyline entwickelt, die sie vor der Geschichte beschützt hat. Sie dachte, sie dreht einen Film über ein Mädchen, das Tierärztin wird und die ganzen Szenen wäre Prüfungen, die sie bestehen muss. Es war ausgemacht, dass sie bestimmte Sätze falsch gelernt bekommt, damit es funktioniert. Wenn sie zum Beispiel ganz schlimme Dinge sagt wie „Ich will, dass du tot bist“, dann meint sie in Wirklichkeit Dinge wie „Wieso glaubst du mir nicht?“ zu sagen. So konnte sie die Rolle mit Inbrunst spielen, aber die Bedeutung dahinter war verändert.

Hattest du während der Dreharbeiten Angst, dass die Rolle der Raya als zu empathielos dargestellt wird und man als Seher irgendwann das Mitgefühl verliert?
Die Geschichte ist aus den Augen der Mutter erzählt. Bei meinen Recherchen habe ich gelernt, dass viele Kinder nach der Adoption anfangs total liebenswürdig rüberkommen und sich wie ein Chamäleon anpassen, um sich im neuen Umfeld sicher zu fühlen. Sobald das passiert, fangen sie an, die Grenzen auszuloten. Da geht es aber darum rauszufinden, ob sie noch jemand lieb hat, auch wenn sie dieses oder jenes machen. Das ist wie eine Schleife, die nicht mehr aufhört. Die Dramaturgie für Rayas Spiel war klar, dass sie anfangs lächelnd ist, aber diese Freundlichkeit zusehends verschwindet. Wiebke hat während des Films aber immer Ankermomente, die ihr die Kraft zum Weitermachen geben. Es gibt immer Hoffnungsschimmer. Im Vorfeld weiß man nur nie, ob das im Film auch alles so ausgeht, wie man sich das vorstellt.

Du hast vorher das Wort Überhöhung verwendet. Am Ende bleibt Wiebke in ihrer gefühlten Ausweglosigkeit nur mehr der Schritt zur Hexerei, wodurch Raya schlussendlich auch von ihren Dämonen befreit werden kann. Dieser Handlungssprung spaltet die Zuseher mit Sicherheit.
Dieses Heidnische und Paganistische kommt aus Skandinavien und unseren Regionen. Wiebke ist in dieser Phase als Mutter und Frau völlig am Ende ihrer Kräfte und weiß nicht, wie es weitergehen soll. In der Hexerei findet sie aber einen Weg, der ihr wieder neue Kräfte verschafft. Ich habe viele alte Mythen und Märchen gelesen und da geht es oft um Frauen in Krisensituationen, denen von anderen Frauen geholfen wird. Ich sehe das nicht als einfachen Ausweg, sondern vielmehr als Symbol für eine Urkraft in der Frau, um dieses Hindernis meistern zu können. Man kann die Sache aus verschiedenen Gesichtspunkten lesen. Einerseits kann jemand einfach nur die dämonische Austreibung sehen, aber trotzdem ist da auch eine Art von Glauben vorhanden, indem das Trauma zu einem symbolischen Wesen wird. Es ist der Psychologie gar nicht so fern, sondern nur eine andere Art zu beschreiben, was vorfiel oder was das Kind von früher mit sich herumträgt. Als Überhöhung meine ich, dass der Film einerseits ein hoffnungsvolles Ende hat, er einen aber nicht nur glücklich zurücklässt. Man zahlt einen Preis für das Happy End, weil eine gewisse Art von Wahnsinn mitschwingt. Wenn man eine Vision hat, die gesellschaftlich nicht einfach so geteilt wird, dann gehört ganz viel Mut und ein bisschen Wahnsinn dazu, das durchzusetzen.

Nina Hoss kennt man aus vielen herausfordernden Rollen, aber „Pelikanblut“ verlangt ihr als Mutter von Raya enorm viel ab. Man kann ihr während des Films förmlich beim Altern zusehen. War es schwierig, eine so etablierte Schauspielerin so an ihre physischen und psychischen Grenzen bringen zu können?
Ich hatte gehofft, dass sie Lust hat so weit zu gehen. Sie hat das Buch gelesen und sich einen Tag später zurückgemeldet und sofort gesagt, sie müsse das machen. Es gibt den Moment, wo Raya nachts neben dem Bett von Wiebke steht und sie erstmals Angst vor dem Kind hat - bei der Passage im Buch war Nina klar, dass sie die Rolle spielen möchte. Der Kampfgeist der Mutter hätte auch was mit ihrer eigenen Einstellung zum Leben zu tun. Sie konnte also auch persönlich daran anknüpfen. Sie war offen, neugierig, aufgeschlossen und risikobereit. Das fand ich irrsinnig bewundernswert, denn wenn man so einen Status hat wie sie, könnte man auch Angst haben, sich anders zu zeigen. Sie kommt vom Theater und spielt sehr vielseitige Rollen. Sie hat mir vertraut und ging auch auf meine Idee ein, mit neuen Coaches zu arbeiten.

Der Film war schon eine Zeit lang vor Corona abgedreht, aber dank des Virus wurde die Veröffentlichung um ein weiteres halbes Jahr jetzt auf Oktober verschoben. Bekommt man da bei so viel Zwischenzeit im Nachhinein Lust, noch einiges verändern zu wollen?
Das fragt man sich eher bei der Premiere und die war schon vor dem Kinostart. Die Idealvorstellung hat man im Kopf, aber manchmal kann der Film ein Eigenleben kriegen, der in besser macht. Irgendwann stößt man auch an budgetäre Grenzen, aber was das Ende angeht, hätte ich vielleicht ein paar Zuseher mehr anders auffangen können. Man überlegt sich, wo man etwas anders hätte setzen können, um den Film verständlicher oder lesbarer zu machen. Wir durften im Vorjahr bei den „Internationalen Filmfestspielen von Venedig“ laufen und die „Orizzonti“-Reihe eröffnen, was mich schon stolz macht. Für ein paar kleine Momente hätte ich vielleicht gerne einen Drehtag mehr gehabt, aber insgesamt hat vieles gut geklappt. Allein schon, dass wir Katerina gefunden haben, denn diese Rolle zu spielen ist unheimlich schwierig. Hätten wir mit den Dreharbeiten gewartet, wäre es zu spät gewesen. Ihr fielen gerade die Zähne aus, sie kam in die Schule und wenig später wäre sie zu alt gewesen.

Das Virus nimmt auch das Filmbusiness kräftig mit. Großproduktionen werden verschoben, Kinos müssen schließen oder haben erhebliche Umsatzeinbußen. Siehst du persönlich deiner Zukunft sorgenvoll oder optimistisch entgegen?
Das vereint mich wohl mit Wiebke - ich glaube immer daran, dass am Ende alles gut wird. Ich habe ein gewisses Grundvertrauen in mir. Ich habe keine Angst, aber ich weiß, dass Leute, die im Beruf Fuß fassen wollen, viele Schwierigkeiten haben. Kino wird nicht aussterben. Ich glaube ganz fast an diese besondere Konfrontation in einem dunklen, ungestörten Raum. Die junge Generation wächst damit nicht mehr so aktiv auf, aber ich sammle auch immer noch Schallplatten. Vielleicht werde ich mehr für Streamer als für Kinoproduktionen arbeiten und Filme werden viel kürzer im Kino sein, aber trotzdem glaube ich, dass es wichtig ist, positiv nach vorne zu schauen. Für Film und das Medium des Geschichtenerzählens wird immer ein Bedarf sein. Die Frage wird eher sein, wie das dann konsumiert wird.

Kinostart von „Pelikanblut“: 16. Oktober!

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