„Chill Out“ gibt Hilfe

200 Jugendliche pro Jahr in Tirol ohne Zuhause

Tirol
12.07.2020 11:30
Jedes Jahr wenden sich 200 Jugendliche an die Sozialberatungsstelle Chill Out in Innsbruck. Sie sind wegen schwerwiegender familiärer Konflikte von Zuhause geflüchtet oder wurden vor die Tür gesetzt und sind somit wohnungslos. Die jungen Menschen suchen Rat und Hilfe.

Die Zahl ist durchaus erschreckend: 200 junge Mädchen und Burschen im Alter von 14 bis 21 Jahren sind jährlich beim ersten Kontakt in der Sozialberatungsstelle Chill Out in Innsbruck wohnungslos. Sie können wegen schwerwiegender familiärer Konflikte nicht mehr zu Hause wohnen. Sie ergreifen von sich aus die Flucht oder werden von ihren Eltern vor die Tür gesetzt. Viele von ihnen haben Gewalt erfahren und/oder waren Zeugen von gewalttätigen Handlungen.

Zehn Wohnplätze
„Ein Teil dieser Jugendlichen wird im Übergangswohnbereich aufgenommen. Wir haben zehn Wohnplätze zur Verfügung, die Aufenthaltsdauer beträgt bis zu drei Monate. Wir sprechen hier von rund 70 Aufnahmen pro Jahr. Die anderen Jugendlichen werden ambulant bei der Suche nach einer längerfristigen, gesicherten Wohnmöglichkeit unterstützt“, erklären Sabine Trummer, die seit mehr als 20 Jahren Mitarbeiterin im Chill Out ist, und Helmut Kunwald, Obmann des Vereins Dawos.

„Unsere Anlaufstelle ist eine Art Cafeteria“
Im ambulanten Bereich stehen zwei Angebote zur Verfügung: die Anlauf- sowie die Sozialberatungsstelle. „Die Anlaufstelle ist eine Art Cafeteria und vergleichbar mit einem gut besuchten Jugendzentrum. Der Unterschied liegt darin, dass bei uns alle Jugendlichen Beratung und Unterstützung vor Ort annehmen. Es gibt etwa Getränke und Imbisse, tagesstrukturierende Angebote, Waschmaschinen/Trockner, Internetzugänge“, betont Trummer. Vor Corona seien täglich um die 40 Jugendliche am Vormittag und bis zu 20 Jugendliche am Abend anwesend gewesen.

Die Sozialberatungsstelle sei „einzigartig in ganz Österreich“, wie die Mitarbeiterin betont. „Hier wird vielfältige Hilfe unter einem Dach angeboten. Die Jugendlichen werden außerdem längerfristig bei der Stabilisierung ihrer Lebenssituation begleitet. Es finden täglich bis zu 20 Beratungen statt“, schildert Trummer.

„Wir konnten zahlreiche Todesfälle verhindern“
Das Chill Out wird – wie berichtet – mit fünf Todesfällen von Jugendlichen in Verbindung gebracht. Drei Mädchen und zwei Burschen kamen zwischen Dezember 2017 und März 2020 ums Leben. „Alle drei weiblichen Todesopfer werden dem Chill Out zugeschrieben, doch das ist nicht wahr“, erklärt Trummer und ergänzt: „Viele Jugendliche kommen regelmäßig zu uns. Es mag schon sein, dass die einen oder anderen irgendwann in der Anlauf- oder Beratungsstelle waren, doch das heißt nicht, dass alle intensiv unterstützt wurden.“

All diese Todesfälle seien schrecklich. „Aber wir konnten auch zahlreiche Todesfälle verhindern. Seit unserem Gründungsjahr 1999 hat sich vieles zum Positiven entwickelt“, sagt Trummer.

„Bedarf an Angeboten wird stets eingeschätzt“
Das bestätigt auch Katharina Schuierer-Aigner vom Büro der für Soziales zuständigen LR Gabriele Fischer: „Es gibt einen Kinder- und Jugendbeirat, der regelmäßig den Bedarf an Angeboten einschätzt. Es werden laufend Projekte realisiert.“ Man sei auf einem guten Weg, betonen alle unisono.

Ein positives Beispiel
Daniela Knoll arbeitet seit acht Jahren als Sozialarbeiteirn in der Innsbrucker Einrichtung. Anhand eines positiven Beispiels zeigt sie auf, wie sie im Team jungen Menschen zu einem normalen Leben verhilft.

„Ein 16-jähriges Mädchen kam eines Tages in Begleitung von einer Freundin zu uns. Mit einer Mitarbeiterin hat sie sich besonders gut verstanden, sie hat sich immer wieder mit ihr rege über diverse Sachen ausgetauscht", sagt Knoll. Zunächst habe das Mädchen stets betont, dass es keine direkte Beratung benötige.

Gewalterfahrungen durch den Stiefvater
„Eines Tages kam sie dann doch in ein Büro. Im Zuge eines intensiven Gesprächs stellte sich heraus, dass die 16-Jährige jahrelange Gewalterfahrungen durch ihren Stiefvater erlebt und dass sie bereits öfters bei Verwandten und Freunden übernachtet hat, um sich vor ihm zu schützen“, erinnert sich die Sozialarbeiterin.

„Es geht ihr mittlerweile gut“
Das junge Mädchen wurde im Wohnbereich aufgenommen. Jeder Jugendliche verfügt dort über ein Zimmer mit einem eigenen Schlüssel. „Wir haben dann gemeinsam mit der Kinder- und Jugendhilfe angefangen, mit der 16-Jährigen zu arbeiten. Nach drei Monaten bei uns haben wir einen längerfristigen Wohnplatz für das Mädchen gefunden. Die Noten in der Schule verbesserten sich, ihr geht es mittlerweile wirklich gut. Sie kommt nach wie vor in unsere Einrichtung und erzählt voller Stolz, wie es ihr ergeht. Das freut einen natürlich sehr“, betont Knoll.

Schilderungen, die unter die Haut gehen
Jugendliche, die im Chill Out - in welcher Form auch immer - betreut wurden und anonym bleiben wollen, beschreiben, weshalb sie Hilfe benötigt haben und wie es ihnen dabei ergangen ist. Schilderungen, die unter die Haut gehen:

  • „Ich habe das Ganze nicht mehr ausgehalten. Weil was willst du tun, wenn du mit 14 Jahren nach Hause kommst und du regelmäßig geschlagen wirst? Da wollte ich nicht mehr heim gehen.“
  • „Am meisten habe ich die Gewalt durch meinen Vater abbekommen. Meine Mutter ist nie dazwischen gegangen. Sie war schwach. Mein Leben war in Gefahr. Als ich von Zuhause weggegangen bin, war es erlösend. Mir war mein eigenes Wohl wichtiger - ganz ehrlich."
  • „Wenn daheim nur Stress und Angst ist, ist das doch kein Daheim oder?„
  • „Ich bin so froh, dass es mit dem Chill Out einfach immer einen Ort gibt, wo ich mich hinwenden kann."

Zahlen, Daten und Fakten
Die Sozialberatungsstelle Chill Out befindet sich in der Heiliggeiststraße 8a in Innsbruck. Der Zugang für Hilfesuchende ist niederschwellig gestaltet. Seit dem Jahr 2000 wandten sich bisher insgesamt mehr als 2500 wohnungslose junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren an die Einrichtung. Fast 1400 von ihnen wurden im Wohnbereich aufgenommen und intensiv betreut. Die restlichen 1100 Jugendlichen wurden direkt vor Ort ambulant unterstützt. Nähere Details gibt es auf der Homepage www.dowas.org, unter der E-Mailadresse chillout@dowas.org sowie unter der Telefonnummer 0512/572121.

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